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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
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Moment und hinter Willem laufen zwei Jungs die Straße entlang, der eine von ihnen spuckt und es ist so still, ich höre sein Rotzen.
    »Was ist denn mit dem Kleinen?«
    »Na nur, dass ich erst mal Tom begrüße, ganz in Ruhe und so«, sagt Willem.
    »Weil sie Angst vor dem Behinderten hat, oder was?«, sage ich. »Weil sie ein Problem mit dem Behinderten hat. Warum kommt sie dann überhaupt hierher, wenn sie so ein Problem mit dem Behinderten hat!« Den letzten Satz schreie ich fast und hoffe, dass Astrid ihr Fenster ein bisschen auf hat und es hört. Die Spuckjungen haben es gehört, sie lachen und zucken komisch mit den Armen, machen einen Spastiker nach.
    »Es reicht, Elli«, Willems Ton ist jetzt schärfer, »mach hier jetzt nicht so einen Aufstand.« Und er dreht sich um und schmeißt die Arme in die Luft und jagt Tom wieder in die Küche. Ich höre das Getrampel der abbremsenden Schritte, Toms dummes, lautes Lachen und dann höre ich es ihn sagen, so ernst er kann: »Nein, Willem! Nein!«
    Und genau in diesem Moment wird das Gefühl wieder angestellt in mir. Plötzlich merke ich, wie ich in mir drin umkippe, wie wenn es mir die Beine wegschlägt, so ein Sog, tief unten im Bauch. Ich sehe Großmutters fahles, totes Gesicht vor mir, ihre kleine, alte Hand, die mich nie mehr anfasst, streichelt, haut. Sie ist einfach weg, sie fehlt. Es tickt in mir, es pulsiert, eine Wut, ich schlage mit der flachen Hand an die Tür, dass es klatscht und die Haut brennt, ich schreie, ich kreische fast: »Verdammt, hör auf mit dem Schwachsinn, du Idiot, sie ist nicht mehr da, Tom. Mama ist tot, schnallst du das nicht?«
    Dann kommen die Tränen und dann kommt Willem, nimmt mich wieder in den Arm und sagt: »Elli.«
     
    An Toms sechzehnten Geburtstag erinnere ich mich gut. Er wollte unbedingt Lotto spielen, weil alle im Lottofieber waren, der Jackpot war riesig, 15 Millionen. Er wollte unbedingt aufstehen und rausgehen zu irgendeiner Bude und seinen Tipp abgeben. Ich weiß gar nicht, wo er die Idee herhatte, aber irgendwer muss ihm erzählt haben, dass man sechs Zahlen braucht und damit einen Schatz gewinnen kann. Ich fand es lustig und wollte auch Lotto spielen und Großmutter war genervt und gekränkt, dass keiner ihren Geburtstagskäsekuchen aß und alle unruhig waren. Tom quengelte und kippelte auf seinem Stuhl hin und her, stand ständig auf und holte Schuhe, Jacke und Handschuhe. Ab und zu brüllte er mitten in die Stille hinein »Lotto« und lachte sich danach schlapp, weil wir so erschreckt waren. Und irgendwann ist es aus Großmutter rausgeplatzt, vor Wut, da schrie sie: »Lotto, so ein Schwachsinn, Lotto, das ist Unsinn, eine massenhafte Unbedachtheit!« Sie schrie, Millionen würden die Gewinne Einzelner bezahlen und sogar darum wissen und es trotzdem tun, Woche für Woche, die Idioten, getrieben von Wunschdenken, unbeherrschbarem Wunschdenken, das der Vernunft widerspreche. Tom saß, kippelte und abwechselnd grinste er selig und blubberte kleine Spuckeblasen mit seinem immerfeuchten Sabbermund. Ich erinnere mich genau an ihre Worte. Oder meine, mich zu erinnern. Ich sehe ihr aufgebrachtes Gesicht sehr nah vor mir, die Spucke, die aus ihrem Mund flog und die Entschlossenheit in ihren Augen, die zitternden Hände. Ich sehe sie und frage mich, ob ich wirklich so nah bei ihr war. Ich halte es für unwahrscheinlich.
     
    Später sitzen wir zusammen in der Küche am Tisch. Willem und ich auf Stühlen, und Tom auf Willem. Er fummelt Willem im Gesicht rum, aber Willem kann trotzdem ernst sein, wenn er mit mir redet. Das kann er noch, so was verlernt man nicht. Früher haben wir uns manchmal angeschrien und Tom ist dann zwischen uns hin und her gelaufen und hat uns schenken wollen, was er gerade in die Finger bekam auf dem Weg vom einen zum anderen, eine Socke oder eine Kerze, ein Buch oder eine Topfpflanze, ganz egal. Wir brüllten uns an und Tom torkelte zwischen uns hin und her und sah einen an, hielt einem einen Pantoffel unter die Nase, lächelte und sagte: »Oh, schön!« Das war seine Art, uns zu beruhigen, den Streit zu schlichten: »Oh, schön! Elli, Elli.«
    Willem nimmt meine Hand und sieht mir freundlich in die Augen. Er streichelt mir die Finger und seufzt und versucht ein Lächeln. Tom drückt ihm seine Nase gegen die Stirn, und Willem kaut ein bisschen an Toms Oberarm und Tom lacht deswegen und wirft seinen Kopf so in den Nacken, dass Willem ihn halten muss, damit er nicht vom Stuhl fällt.
    »Na, wie ist es,

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