Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song

Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song

Titel: Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Harvey
Vom Netzwerk:
Er hatte einen Ruf als harter Mann zu wahren, der leiden würde, wenn irgendjemand ihn dabei ertappte, wie er ein sechs Monate altes Lamm in den Armen hielt – ob er es nun »Grüne Sauce« nannte oder nicht. Wenn seine Zeit gekom men war, würde Grensosa natürlich im Kochtopf enden, allerdings als ausgewachsener Hammel statt als Lamm. Ragnar war nicht der erste Bauer, der seinem zukünftigen Essen einen Namen gegeben hatte, und er würde auch nicht der letzte sein.
    Er schlenderte zum See hinunter und warf flache Steine über die glatte Wasseroberfläche. Es gab einige Dinge, um die er sich kümmern musste. Mehr als sonst, weil er den größten Teil des letzten Monats wegen der Vorbereitungen für das Sommermarktfest plus der einen Woche, die er dort Recht sprach, verloren hatte. Bei seiner Rückkehr hatte ihn ein Berg unerledigter Aufgaben erwartet. Doch er war noch nicht bereit, sich ihnen zu stellen. Welchen Sinn hatte es denn, Gothi zu sein, wenn er nicht einmal selbst entscheiden konnte, wann er arbeiten wollte?
    Seine Gedanken schweiften immer wieder ab und kehr ten zu der Witwe Helga zurück, die zwar mittlerweile zu alt war, um noch Kinder zu gebären, aber immer noch einen sexuellen Appetit besaß, der dem seinen glich. Trotzdem zog er nicht in Betracht, sie zu heiraten, wie sie vorgeschlagen hatte, denn sein Status als Witwer ermöglichte es ihm, die Frauen in seinem Umfeld gegeneinander auszuspielen.
    Der Gedanke an die Frauen brachte ihn zurück zu Bera, und die Erinnerung daran, wie sie dem Ruf seiner Sippe geschadet hatte, ließ sein Blut in Wallung geraten. Also versuchte er, an etwas anderes zu denken, doch er fand einfach keine Ruhe.
    Die wahre Ursache seiner Unruhe war allerdings der Fremde, Allman, oder vielmehr die störenden Auswirkung seiner Gegenwart auf das fragile Gleichgewicht des Gehöfts.
    Während er am Ufer des Sees umherschlenderte, ließ er zu, dass Orn seinen Weg kreuzte. Sein ältester Pächter rieb sich den kahlen Schädel und spähte aus schmalen Augen zu den beiden Sonnen empor, von denen eine gerade hinter grauen Wolken verborgen war, was immer häufiger geschah, je näher sich der Tag seinem Ende entgegenneigte. »Es ist uns gelungen, einen Ersatzbolzen für das Geschütz herzustellen, ohne das andere auszuschlachten.«
    »Also schinden wir eine weitere Woche, einen weiteren Monat oder ein weiteres Jahr heraus«, kommentierte Ragnar. Orn wirkte zuerst schockiert, dann enttäuscht und schließlich wütend, und das in einer so schnellen Abfolge, dass Ragnar beinahe gelacht hätte. »Tut mir leid«, sagte er stattdessen, »ich wollte mich nicht über deine Bemühungen lustig machen. Du hast gute Arbeit geleistet, das Geschütz zu reparieren, ohne dafür irgendetwas anderes auseinandernehmen zu müssen.«
    Orn nickte besänftigt. »Wir tun, was wir können. Wenn das darüber entscheidet, ob die Gestalter zu einer toten oder einer lebensfähigen Kolonie zurückkehren, dann ist es die Mühe wert.«
    Aber sie werden nicht zurückkehren!, hätte Ragnar am liebsten geschrien, doch er biss sich auf die Zunge. Darüber hatten sie sich schon viel zu oft gestritten. Es war dieses Verhalten, das Ragnar den Ruf eingetragen hatte, exzentrisch zu sein. Nur seinen Fäusten und seinem Schwert hatte er es zu verdanken, dass niemand, der an seinem Leben hing, es wagte, ihn Ragnar der Verrückte zu nennen.
    Niemand außer ihm glaubte, dass die Kolonie von ihren Gründern im Stich gelassen worden war. Dazu waren die anderen gar nicht in der Lage, denn das hätte bedeutet, sich der nahezu unerträglichen Erkenntnis stellen zu müssen, dass sie dazu verurteilt waren, eine lediglich zur Hälfte fertig terraformierte Welt nur mithilfe der Norns und dem Wenigen, das sie dem kargen Boden abtrotzen konnten, zu zähmen. Ragnar hatte seine Meinung stets so gut wie möglich für sich behalten, aber trotzdem waren seine an Häresie grenzenden Überzeugungen bekannt geworden.
    Orn schien seine Gedanken lesen zu können. »Ich weiß, dass wir nur unsere Zeit mit dem Versuch verschwenden, das Unvermeidliche hinauszuzögern«, sagte er halb scherzhaft. »Ich möchte aber trotzdem, dass die Dinge funktionieren, selbst wenn es nur vorübergehend ist.«
    »Das ist genau meine Lebenseinstellung«, sagte Ragnar mit einem Anflug von Selbstironie. »Dafür sorgen, dass die Dinge laufen.« Er besaß genug Distanz zu sich selbst, um zu wissen, dass er zu der Sorte Mann gehörte, der glaubt, seine Umwelt habe sich seinen

Weitere Kostenlose Bücher