Gesund durch Meditation
uns aber für den Umgang mit Stresssituationen eine Alternative zur Verfügung steht, sind wir auch weniger auf die üblichen unzweckmäßigen Bewältigungsstrategien angewiesen. Eine frühere Absolventin des Klinikprogramms berichtete am Ende des Ganztagsseminars von ihrer Erfahrung mit dem Impuls zu rauchen. Sie hatte sich klargemacht, dass selbst ihr stärkster Impuls, zur Zigarette zu greifen, nicht länger als wenige Sekunden andauert, und dass es etwa dieselbe Zeit in Anspruch nimmt, um tief durchzuatmen. Also, dachte sie sich, könne sie ebenso gut ihre Aufmerksamkeit auf den Atem lenken und sich dabei vom Verlangen zu rauchen wie von einer Welle tragen lassen, deren Ansteigen und Fallen sie beobachtend folgt, bis der Impuls sich legt. Eine andere Kursteilnehmerin hängte das Neun-Punkte-Problem gut sichtbar in ihrem Büro auf. Nun kann es sie in Augenblicken, in denen sie unter Druck steht, daran erinnern, diese in einem größeren Kontext zu betrachten.
Je mehr durch die formale Meditationspraxis Entspannung und Geistesruhe für Sie zu vertrauten Zuständen werden, desto müheloser stehen sie Ihnen zur Verfügung, wenn Sie ihrer bedürfen. Wenn Sie also unter Druck stehen, dürfen Sie sich nunmehr vom Stress wie von einer Welle tragen lassen. Sie müssen Ihre Reaktionen weder unterdrücken noch vor deren Auslösern Reißaus nehmen. Es werden noch immer etliche dieser Stresswellen vor Ihnen auftauchen, aber weit weniger als zu der Zeit, als Sie noch gänzlich den eigenen Reaktionsmustern ausgeliefert waren.
Wie schon gesagt, geht es beim Erlernen des achtsamen Umgangs mit inneren und äußeren Stressfaktoren nicht darum, nie wieder impulsiv zu reagieren oder seine Emotionen zu unterdrücken. Es wird auch weiterhin Momente des Zorns, der Angst und des Kummers geben. Der springende Punkt ist zu lernen, wie man mit seinen emotionalen und körperlichen Reaktionen arbeitet, damit sie weniger Macht über uns haben und uns so mehr Spielraum für klare und effektive Handlungsentscheidungen lassen.
Wie sich eine Situation im Einzelnen darstellt, hängt von der Tragweite des Geschehens ab und davon, was es für uns persönlich bedeutet. Es ist nicht möglich, sich im Voraus einen Plan zurechtzulegen, der für alle erdenklichen Stresssituationen Strategien vorgibt. Mit Stress umzugehen heißt, in jedem Augenblick achtsam zu sein und den Moment so anzunehmen, wie er sich darbietet. Dazu muss man sich auf das eigene Gespür für die Situation verlassen können und auf seine Fähigkeit vertrauen, jeden Augenblick auf neue und kreative Weise zu betrachten und zu gestalten. So werden alle Stresssituationen zu Gelegenheiten, noch unbekanntes Terrain zu erkunden. Vielleicht weiß man bisher nur, dass man nicht mehr in der hergebrachten Weise
reagieren
will, ohne schon eine Idee davon zu haben, was es bedeutet, mit einer Situation auf neue und andere Weise
umzugehen.
Kein Moment gleicht völlig dem anderen, und es hängt von den jeweiligen Umständen ab, welchen Gestaltungsspielraum ein jeder Augenblick bietet. In jeder Situation aber kann man, wenn man ihr mit Achtsamkeit begegnet, sich seines gesamten inneren Potenzials versichern und die Freiheit der Kreativität erfahren. Eine achtsame Lebensführung erlaubt es, sogar in den schwierigsten Momenten vollkommen geistesgegenwärtig zu sein. Mit Achtsamkeit und Präsenz sind wir in der Lage, die ganze Katastrophe des Lebens bereitwillig anzunehmen, um sie hier und jetzt zu bestehen. Manchmal wird, was uns plagt, damit leichter, manchmal auch nicht. Aber selbst inmitten von Leid und Schmerz bietet die Achtsamkeit eine besondere Art von Trost, einen Trost der Weisheit und des tiefen Vertrauens: den Trost,
ganz
zu sein.
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Teil IV Achtsamkeit in der Praxis: Das Annehmen der ganzen Katastrophe
21. Sie sind nicht der Schmerz
Wenn Sie sich das nächste Mal mit dem Hammer auf den Daumen hauen oder sich das Schienbein an der Autotür stoßen, können Sie die Gelegenheit zu einem kleinen Achtsamkeitsexperiment nutzen. Versuchen Sie einmal, der Szene, die sich innerhalb der nächsten ein, zwei Sekunden abspielt, als Beobachter beizuwohnen: die explosionsartige Ausbreitung des Schmerzes und die ihn begleitenden Flüche, Schmerzlaute und wilden Gesten. Sie werden bemerken, dass Sie bald aufhören, zu schimpfen und zu fluchen und dass Ihre Bewegungen wieder kontrollierter werden. Während Sie den Schmerz beobachten, achten Sie auf seine wechselnden Qualitäten, auf die
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