Getäuscht - Thriller
leichte Brise, die vom Meer herüberwehte, war immer noch warm und vermischte sich mit dem Duft der Pinienbäume und Jasminbüsche. Jonathan rutschte den Abhang hinunter und wirbelte dabei reichlich Schmutz und Staub auf. Er duckte sich hinter aufragenden Felsen. Unter ihm schmiegte sich das mittelalterliche Städtchen Èze an den Berghang und bot mit seinen Lehmziegeldächern und rustikalen Häuserwänden ein malerisches Bild. Noch ein Stück tiefer schlängelte sich die Moyenne Corniche in Richtung Cap Ferrat und der Bucht von Villefranche-sur-Mer am Berghang entlang. Eine Kirchturmglocke schlug neun Mal.
Jonathan ließ seinen Rucksack auf die Erde gleiten und kramte darin nach einem Fernglas. Er hatte es zusammen mit einem Handy, Mineralwasser und anderen notwendigen Dingen in einem Warenhaus in Menton gekauft und alles mit Luca Lazios Kreditkarte bezahlt. Nun hielt er sich das Fernglas an die Augen und beobachtete die Villa, die genau gegenüber an einer Böschung lag. Das Gebäude war klein und offenbar sehr alt. Die Mauern waren aus weißen Natursteinen, und die Dachziegel hatten den sonnengebleichten Ockerton, den man auf vielen Dächern an der Côte d'Azur fand. An der einen Seite des Hauses befand sich eine Terrasse mit einem metallenen Schutzgitter. An der Straßenseite stand ein Briefkasten, auf dem in weißer Farbe »58 Route de La Turbie« geschrieben war.
Jonathan fiel eine Bewegung auf der Terrasse auf. Die Türen, die eben noch geschlossen gewesen waren, standen jetzt weit offen. Eine schemenhafte Gestalt eilte mit schnellen Schritten zurück ins Haus. Jonathan ging instinktiv hinter dem Felsen in Deckung, verharrte regungslos in seinem Versteck und beobachte die flatternden Vorhänge an der geöffneten Terrassentür. Eine dicke getigerte Katze schlich gemächlich über die Terrasse und legte sich unter einen schmiedeeisernen Tisch. Ein paar Minuten verstrichen, doch von der Gestalt war weit und breit nichts mehr zu sehen.
Jonathan zog das neue Handy aus der Tasche. Die Nummer kannte er inzwischen auswendig. Er drückte auf die Schnellwahltaste und hielt sich das Handy ans Ohr. Die Verbindung wurde hergestellt. Jonathan hörte das Freizeichen.
Plötzlich tauchte die Gestalt erneut auf der Terrasse auf. Jonathan sah, dass es ein Mann in seinem Alter war, schlank, von durchschnittlicher Größe, mit schwarzem Haar und so blasser Haut, dass sie förmlich nach einem Sonnenbad schrie. Der Mann trug einen dunklen Anzug mit einem am Kragen geöffneten Hemd. Seine Kleidung und seine Körperhaltung wirkten zu steif und förmlich für einen entspannten Sommerabend an der französischen Riviera. Der Mann war zweifellos im Dienst.
»Allô?«, sagte er. Sein Französisch hatte einen ausländischen Akzent.
»Bin ich verbunden mit der VOR S. A.?«, fragte Jonathan, ebenfalls auf Französisch. »Ich möchte mit Serge Simenon sprechen.«
Jonathan hatte die VOR S. A. zusammen mit dem Namen des Direktors in einem Onlineregister großer Unternehmen in der Euregio Alpen-Mittelmeer gefunden. Dort hatte er auch erfahren, dass die Gesellschaft vor zehn Jahren mit einem vergleichsweise bescheidenen Startkapital von hunderttausend Euro gegründet worden war und Büros in Paris und Berlin unterhielt. Heute war VOR S. A. ein internationales Handelsunternehmen. Eine angemessene, neutrale Umschreibung für Spionage, fand Jonathan.
»Mit wem spreche ich, bitte?«
»Mein Name ist Jonathan Ransom. Monsieur Simenon kennt mich.«
»Bleiben Sie bitte einen Moment am Apparat.« Jonathan beobachtete durch den Feldstecher, wie der Mann den Anruf zurückstellte und eine Nummer wählte. Er wechselte ein paar Sätze mit einem unsichtbaren Gesprächspartner und meldete sich dann wieder auf Jonathans Handy. »Monsieur Simenon sagt, er kennt Sie nicht.«
»Richten Sie ihm aus, dass ich gerade aus Rom komme und weiß, dass er derjenige war, der Emma Ransoms Krankenhausrechnung bezahlt hat.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
»Und sagen Sie ihm auch, dass ich genau weiß, was Emma Ransom vorhat«, fügte Jonathan mit einer gewissen Verwegenheit hinzu, wie jemand, der seinen letzten Trumpf ausspielt.
Er hörte ein Klicken, als der Mann seinen Anruf erneut zurückstellte. Durch das Fernglas sah er, wie der Mann aufgeregt ins Telefon sprach. Seine Körperhaltung war deutlich angespannter als noch vor einer Minute. Schließlich drang die Stimme des Mannes wieder an Jonathans Ohr: »Darf ich fragen, wo Sie sind, Dr.
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