Getäuscht - Thriller
gar nicht mehr hin. In einiger Entfernung sah er die von Rauchschwaden umwogte Gestalt einer Frau mit lockigen rotbraunen Haaren, die sich einen Weg durch die Menge bahnte. Dann war sie im Gewimmel der in Scharen eintreffenden Polizisten und Feuerwehrleute verschwunden.
Jonathan hatte keinen Zweifel.
Es war Emma gewesen.
Seine Frau lebte.
EIN TAG ZUVOR
1.
Der Stadtteil Mayfair im Herzen Londons gehört zu den exklusivsten Wohngegenden der Welt. Hier findet man das Claridge's, eines der besten Hotels weltweit, das Auktionshaus Sotheby's, das Haus No 9 Grosvenor Square, in dem einst John Adams gewohnt hat, der sechste Präsident der USA, sowie das Haus No 25 Brook Street, in dem Georg Friedrich Händel die letzten dreißig Jahre seines Lebens verbrachte. Auch die Bond Street, eine der teuersten Einkaufsstraßen der Welt, führt durch Mayfair.
Doch selbst in dieser Enklave der Superlative sticht eine Adresse heraus: No 1 Park Lane - auch »One Hyde Park« genannt - ist ein hypermoderner gläserner Hochhauskomplex am südöstlichen Rand des Hyde Park. Vor hundert Jahren stand hier ein zehnstöckiges Hotel. Nach und nach ließen sich in dem ehemaligen Hotelgebäude eine Bankfiliale, ein Autohändler und Gerüchten zufolge ein Luxusbordell für hochrangige Besucher aus dem Mittleren Osten nieder. Als die Londoner Immobilienpreise in astronomische Höhen schnellten, wurden auch die Pläne für das Gebäude immer ambitionierter.
Heute befinden sich in One Hyde Park vier Apartmentpavillons mit insgesamt achtzig Privatresidenzen. Jede nimmt ein halbes Stockwerk ein, das Penthaus sogar zwei Etagen. Eine durchschnittliche Wohnung kostet zwanzig Millionen Pfund, das Penthaus einhundert Millionen. Zu den Besitzern zählen der Außenminister von Katar, ein arabischer Prinz und ein russischer Oligarch. Hinter vorgehaltener Hand spekulieren die Bewohner der Park Lane scherzhaft, wer von diesen Herren der größte Gauner ist.
Angesichts einer solch geballten Ladung Reichtum unter einem Dach hat die Frage der Sicherheit oberste Priorität. Zwei livrierte Türsteher überwachen rund um die Uhr den Eingangsbereich; ein Team von drei unauffällig gekleideten Wachleuten kontrolliert das Außengelände, und zwei weitere Wachmänner halten sich rund um die Uhr in der Sicherheitszentrale auf, wo die Bilder von vierundvierzig Überwachungskameras auf Monitore übertragen werden. Die Eingangstüren von One Hyde Park bestehen aus kugelsicherer Doppelverglasung, eingefasst von einem Stahlrahmen. Das Schloss würde sogar den Einschlag einer Panzergranate überstehen. Besucher dürfen das Gebäude erst nach optischer Kontrolle durch Überwachungskameras und eindeutiger Identifizierung durch einen der Bewohner betreten.
One Hyde Park galt als uneinnehmbare High-Tech-Festung.
Aber das war ein Irrtum.
Reinzukommen war die leichteste Übung.
Der Eindringling mit dem Codenamen »Alpha« stand im begehbaren Kleiderschrank von Apartment 5A. Das Alarmsystem kannte Alpha in- und auswendig; deshalb wusste er, dass sich in seiner unmittelbaren Nähe keine Sensoren befanden. Er drückte auf den Lichtschalter und ließ den Blick durch den exquisit eingerichteten Ankleideraum schweifen, über ein Regal mit handgefertigten Schuhen, eine aufgerollte St.-George's-Flagge, zwei kostbare Jagdwaffen und einen Stapel vergilbter Zeitschriften, gebundener Zeitungen und Aktenordner - die sorgsam gehüteten Schätze eines gewissenhaften Dozenten. Auf der rechten Seite stand ein Ankleidetisch aus Mahagoni mit mehreren Fotos in Silberrahmen. Auf einem dieser Bilder war ein großer, schlanker blonder Mann in der Kluft eines Jägers zu sehen, der mit einem Gewehr unter dem Arm vertraulich mit einer ebenfalls sportlich gekleideten Queen Elisabeth II. plauderte. Der Mann auf dem Foto war der Eigentümer dieses Apartments: Lord Robert Russell, Junggeselle, dreißig Jahre alt, einziger Sohn des Duke of Suffolk, mit einem geschätzten Vermögen von fünf Milliarden Pfund der reichste Adelige Englands.
Doch Alpha hatte es nicht auf Russells Vermögen abgesehen, sondern auf etwas sehr viel Kostbareres.
Er kauerte sich hin und nahm ein kleines Paket aus seinem Rucksack. Mit dem Daumen öffnete er die Plastikummantelung. Sorgsam faltete er einen silberfarbenen Ganzkörperanzug auseinander und schlüpfte hinein. Der Anzug musste die Haut vollständig bedecken. Die Kapuze reichte Alpha bis über die Augenbrauen und verhüllte auch Nase und Mund. Der Anzug
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