Getäuscht - Thriller
fünfziger Jahren erbaute Sommerresidenz des Präsidenten, lag fünf Kilometer nordwestlich vom Zentrum Sotschis auf einem großzügigen Grundstück am See. Der Hubschrauber landete auf einer Wiese direkt neben dem Palastflügel, in dem die Büroräume lagen. Als Shvets zur Eingangstür ging, bemerkte er einen Schatten über sich. Er hob den Blick. Auf allen Dächern des Palasts lagen Scharfschützen des Innenministeriums auf der Lauer. Der Präsident hatte Angst. Diese Entwicklung war neu.
Nachdem Shvets das Gebäude betreten hatte, wurde er zu einem Fahrstuhl gebracht und zwei Stockwerke tiefer zu den Schießübungsräumen geleitet. Ein Angestellter drückte ihm ein Paar Ohrenschützer in die Hand. Shvets streifte sie sich über und trat durch eine Glastür in den Übungsraum. An der Wand lehnend, beobachtete er den Präsidenten, der gerade ein Magazin auf die schwarze Silhouette eines amerikanischen Marineoffiziers abfeuerte.
Schließlich wandte der Präsident sich Shvets zu und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, näher zu kommen. »Also?«, fragte der Präsident.
»Iwanow lebt, liegt aber auf der Intensivstation. Ich weiß nicht, wie es um ihn steht. Botschafter Orlow und etliche seiner Männer sind tot. Die Polizei hat noch niemanden verhaftet. Genaue Informationen über den Anschlag gibt es noch nicht, aber es steht fest, dass es keine Amateure waren. Die Planung und Durchführung des Anschlags waren das Werk eines Profis.«
Der Präsident versuchte unbeholfen, die Pistole zu sichern. Er besaß weder das Waffengeschick noch die Aggressivität seines Vorgängers. Von Natur aus war er schwächlich, aber verschlagen. Ein Wiesel mit scharfen Zähnen. Außerdem war er gerissen. Er wusste, dass die Russen von ihrem Staatsoberhaupt Stärke erwarteten, und er war fest entschlossen, sie nicht zu enttäuschen.
»Orlow war ein guter Mann«, sagte der Präsident. »Ich kenne seine Familie. Wir werden dafür sorgen, dass er ein Staatsbegräbnis erhält.« Endlich gelang es ihm, die Waffe zu sichern, und sein Blick heftete sich prüfend auf seinen Besucher. »Gab es irgendwelche Gerüchte über den Anschlag?«
»Nein«, antwortete Shvets. »Im Hinblick auf Iwanows Vergangenheit dürfte es schwer werden, Aussagen über das Motiv zu treffen. Wenn es einen Mann mit Feinden gibt, dann ist es Igor Iwanow.«
»Wohl wahr, aber ich bin mir sicher, dass es nicht um Iwanow ging.«
»Ach ja?«
»Wenn Iwanows Feinde ihn umbringen wollten, hätten sie es mit viel weniger Aufwand hier in Moskau erledigen können.« Der Präsident nahm das Magazin aus der Pistole. Shvets erkannte, dass es sich um die antike Tokarew aus dem Jahre 1911 handelte, die eigens für Zar Nikolaus II. angefertigt worden war. Man munkelte, dass die bolschewistischen Truppen den Zar und seine Familie mit dieser Waffe erschossen hatten. Shvets konnte den juwelenbesetzten Romanow-Adler auf dem perlmuttbeschlagenen Handgriff der Waffe erkennen.
»Nein, dieser Anschlag hat nicht Iwanow gegolten«, fuhr der Präsident fort. »Es war ein Anschlag auf unser Land. Der Versuch, uns zu treffen, solange wir am Boden sind.«
Shvets hütete sich, der Aussage des Präsidenten zu widersprechen. Stattdessen dachte er an die verlassenen Baustellen und halbfertigen Gebäude, die er auf seinem Flug über die Stadt gesehen hatte.
Es war paradox: Die Wirtschaft des Landes befand sich im freien Fall. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt Russlands seit 1999 jährlich um bis zu 10 Prozent wuchs. Der Grund für das ansteigende Wachstum hing mit der Ausbeutung der scheinbar unerschöpflichen Bodenschätze zusammen: Gold, Diamanten, Erdgas und besonders Öl. Das Land verfügte über gesicherte Ölvorkommen von 80 Milliarden Barrel und war damit der siebtgrößte Öllieferant der Welt. Experten schätzten, dass in Russland noch weitere 100 Milliarden Barrel Öl im Boden schlummerten. Die Ölproduktion war von 6 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 1999 auf 9,95 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 2007 angestiegen. Diese Steigerung hatte in Verbindung mit dem in astronomische Höhen schnellenden Ölpreis zu einem beachtlichen Überschuss im Staatshaushalt geführt. Zu seinen besten Zeiten hatte Russland allein durch die Ölexporte jeden Tag 1 Milliarde US-Dollar eingenommen, mehr als 65 Prozent des russischen Exporteinkommens.
Doch dann war der Ölpreis in den Keller gerutscht, und Besserung war nicht in Sicht. Die Aktienkurse brachen um knapp 80 Prozent ein, und die Gelder ausländischer
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