Gewäsch und Gewimmel - Roman
sie weisen unnötig auf unseren Altersunterschied hin), vor einigen Tagen hätte ich den Abfalleimer versehentlich zunächstim Vorraum abgestellt, wo sich der Fäulnis- und Verwesungsgeruch stärker entwickelt. Er sei ja eigentlich sehr abstoßend. Mir dagegen sei er sofort, als ich wieder vorbeigekommen sei, in seiner besonderen Mischung als freundlicher Hauch, als Winken aus längst vergangener Zeit erschienen. Es war ja das nie wieder so aufgetauchte Aroma meiner heimatlichen Trümmerspielplätze gewesen.
Die Kellner tragen auf Kantinentabletts gefüllte Suppentassen in das Blockhaus, zu den Gästen, die sich am Nachmittag blitzend für die Feier geschmückt haben. Mit der Gräue nehmen auch Kühle und Luftfeuchtigkeit zu. Von der Bedienung sieht keiner mehr erwartungsvoll auf die Uhr, aber Hans wirft jetzt einen erschrockenen Blick auf die seinige. Um Sabine rechtzeitig vom Flughafen abholen zu können, müssen wir die diagonale Abkürzung abseits der festen Wege nehmen.
Hans tritt gleich zu Beginn auf eine liegende ausgehöhlte Birkenrinde über einer Pfütze und steht mit einem Fuß im Schlamm. Er kennt sich nach der Veränderung nicht so aus wie früher. Was haben die hier bloß umgekrempelt und auf den Kopf gestellt! Die düstere Atmosphäre verdichtet sich sehr schnell zu Klumpen und Inseln, baut Fronten auf, die wir durchstoßen und wieder verlassen. Daß es sich um richtigen Nebel handelt, erkennt man erst, wenn man darauf zurücksieht. Aus der Distanz fällt der Bereich, den wir eben durchwandert haben, in Unsichtbarkeit. Das passiert uns allmählich auch miteinander. Wir taumeln zwischen flachen Gespinsten, die tänzelnd und würgend aus verborgenen Tümpeln und kleinen Moorflächen steigen. Man muß sich in den Armen des anderen eine Stütze suchen, denn wir geraten auf dem durchlöcherten Boden ins Wanken. Zwischen den Stämmen bauschen sich Netze aus nassen Dunstgeweben. Ein bleicher Pferdekopf, ganz in der Farbe des hin und wieder flüchtig im wehenden Grau aufscheinenden und sich beklommen verschleichenden Mondfragments, schwebte noch eben seitlichund geht jetzt lautlos unter. Da, ein zweiter verschwimmt und ertrinkt. Die Feuchtigkeit kriecht zu den Knien und höher.
Sind nicht ein, zwei Schüsse gefallen? »Kein Angst«, knurrt Hans, »das sind nicht etwa leichtsinnige Jäger, das sind die Forstdämonen.« Er weiß auch Rat und Erklärung für die mechanisch schaurigen Laute, die uns, von Position zu Position hüpfend, umkreisen. »Rufe von Rohrdommeln, Schreitvögel mit zornigen Augen, die sich am Tag zur Tarnung in Pfahlstellung aufrichten und, bei Gefahr, den langen Hals samt Schnabelspitze steil nach oben, mit dem Schilfrohr schwanken, als gehörten sie zu den Schilfbüscheln. Eventuell sehr nachahmenswert, Frau Wäns. Wegen der eintönigen dunklen Töne nennt man sie auch ›Moorochs‹. Kennen Sie den Moorteich im Berggarten von Herrenhausen? Sehr, sehr unheimlich. Das Abgeschiedene, Abgestorbene, auch: Verstorbene ist den Leuten prima gelungen. Ich war mit Anada dort. Was bin ich ein Idiot! Die Indianerin hat sich krummgelacht über die PVC-Folie unter dem Wasser.«
Uns schlagen jetzt fortwährend Zweige ins Gesicht. Wir klammern uns aneinander, weil uns die Wurzelschlingen auf den Wegen Stolperfallen stellen. Der schwächliche Halbmond vergeht, schwillt an, verrinnt. Wir sind guter Dinge. »Sei mir gegrüßt, du halber, wie du bin ich einer, der halb«, sagte Hans inständig zum Mond. »Der alte Grillparzer!« Er lacht leise, wie zur Entschuldigung für das Zitieren. »Das hier, Frau Wäns, ist die einzige Wildnis, die wir noch haben. Wir müssen uns damit zufriedengeben.«
Weil ich so dicht im Taumeln mit meinem Mund an sein Ohr geraten bin, riskiere ich, bevor ich drüber nachdenken kann, einen Seufzer: »Wenn ich nur ihre herrliche Musik von damals, das italienische Duett, noch einmal hören könnte!« Vielleicht würde dann aus der Gegenwart das Schönste, was ihr passieren kann. Sie würde sich schwermütig runden zur Erinnerung. An was denn? An eine Vergangenheit, die ich nicht erlebt habe. Geradedas aber ist das Vollkommene auf der Erde und das Menschenmögliche.
Da bleibt Hans im Nebeldickicht stehen. Ich spüre, daß er neben mir tief Luft holt, ein Troubadour, der sich nur noch den Dunst satirisch aus der Kehle räuspern muß. »Dèh! Se cara a te son io?« singt er fragend, als wüßte er nicht ganz sicher, ob ich genau dieses Liedchen meine. Ich hätte auch sagen können:
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