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Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Stadion jedem zweiten Bettler ein Almosen spendiert, weil er dachte: Dann werden wir siegen! Seine Leute siegten indessen oft trotzdem nicht. Endlich entschloß er sich zur Bestrafung. Er gab nur jedem vierten Bettler Geld.
    Sie blieb, nach dem morgendlichen Abschied, noch eine Weile am Fenster stehen und forschte einer Empfindung nach. Schon als Kind wäre sie am liebsten den Leuten, wenn sie abends von der Arbeit nach Hause gingen, heimlich in ihre Wohnungen gefolgt, um dort zu beobachten, wie sie die Einkaufstaschen abstellten, in den Kühlschrank sahen, sich ausgiebig irgendwo kratzten, das alles. In dieser Nacht jedoch hatte sie die Wesen, die in dem Mietshaus schliefen, nicht nur beim Bedienen der Toilettenspülung, sondern beim Atmen gehört. Sie erwiesen sich als klopfende Pulse eines gewaltigen Organismus. Beim allgemeinen Klingeln der Wecker waren sie jedoch in fremde, förmliche, einander sogar feindliche Einzelstücke zersprungen.
    Da wanderte ihr Blick zum Körper auf der Litfaßsäule, der mit winzigen Dessous bekleidet war und zu den Vorübergehenden ineiner Sprechblase sagte: »Geben Sie Ihrem Leben einen Kick!« Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, daß sie sich längst nicht mehr mit den Gesichtern solcher Wundergestalten verglich, nur noch mit deren Schultern, und nun, am hellen Tag, sah sie: Auch das sollte sie in Zukunft besser unterlassen. Wie prunkten die Blutjungen in den Illustrierten mit ihren Entblößungen und präsentierten sich als Opfer, voller Lust in prächtige, ihr Fleisch vergewaltigende Kleider gezwungen!
    Schon wandte sie sich ab, als sie ein unförmiges Mädchen bemerkte. Es stand unter dem überlebensgroßen Foto und blickte zu ihm hoch. Elsa sah es von der Seite. Etwa im gleichen Alter hatte sie in ihren Sommerferien Kinder armer Leute drei Wochen lang jeden Tag ins Grüne geführt. Ein Sozialprojekt der Stadt, bei dem sie Geld für zwei Wochen Jugendherberge an der Nordsee verdient und scharf hatte aufpassen müssen, daß sie sich nicht genierte vor denen, die mit den Eltern an südliche Meere flogen.
    Das hoffnungslos aufgequollene Mädchen blickte hoch zu den vollkommenen Gliedmaßen, hielt offenbar die Luft an, las den Spruch, nichts weiter. Es brauchte viel Zeit dafür, sehr viel Zeit, und rührte sich nicht von der Stelle, auch Elsa rührte sich nicht.
    Und was war das? Fing die Plakatfigur nicht an zu beben und sich zu krümmen unter so schrecklich viel Gefühl?
Diese Person und eine zweite
    Diese Person, deren Bruder Alex als Rettungssanitäter beim Roten Kreuz für 5,11 Euro Stundenlohn beschäftigt ist, soll zeitweilig als besonders freundliche Verkäuferin bei einer Süßwarenkette gearbeitet haben, zum Erstaunen der Kundinnen plötzlich verschwunden, dann aber seelenruhig in der gleichen Funktion in einem Bettengeschäft aufgetaucht sein, später in einem kleinen Reformhaus, auch hier als angebliche Fachkraft, dann in der Annahmestelle einer Änderungsschneiderei und Reinigung.Martha Bauer will sie zwischendurch im offenen weißen Kittel entdeckt haben, in einer schwarz-weiß gekachelten Apotheke, als sie für einen naschhaften alten Herrn die Vor- und Nachteile von Erkältungsdragees abwog. Das zweifeln manche an.
    Glauben geschenkt wird dagegen dem Gerücht, man habe sie am 20. November des laufenden Jahres überraschend in einer katholischen Kirche gesichtet, wo sie mirnichts, dirnichts mit dem lustigsten Gesicht lauter Centmünzen Stück für Stück in den zur Opferung herumgereichten Korb geworfen und, als sie feststellte, daß ein sehr unrasierter Mann neben ihr bei der Kommunion sein Butterbrot auspackte und zu essen begann, den Rest des Kleinstgeldes in dessen Manteltasche gestopft habe.
    Elsa, die am Vortag durch Alex von dieser Person gehört hatte, wurde in Amsterdam nach Besuch vieler sehenswerter Lokalitäten beim Betreten ihres Hotels, während des Aufziehens der schweren Eingangstür, von hinten räuberisch angegriffen. Ob der Dieb ihr den zierlichen Lederrucksack von den Schultern reißen oder nur von oben in die Öffnung greifen wollte, blieb ungeklärt. Sie konnte behelligt, aber ungeschoren in die Hotelhalle entwischen, verlor auch kein Wort darüber. Am nächsten Morgen, sie wußte nicht, was sie dazu bewog, bettelte sie ganz unerwartet und ohne den Trieb unterdrücken zu können, kaum, daß sie ihr Hotel verlassen hatte, einen Vorübergehenden um einen Euro an. Dabei streckte sie ihm ihre hohle Hand nach uralter Sitte als Opferbehältnis entgegen

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