Gewäsch und Gewimmel - Roman
sie zum Erdtrabanten hochblickte, zeigten sich ihr zwei verschwommene Scheiben. Außerdem hatte man ihr ein neues Herz eingesetzt vor zwei Jahren. Keine Krisen, alles wunderbar mit Hilfe der Medizin gemeistert. Seitdem freute sie sich jeden Tag ihres Lebens, zu jeder Jahreszeit. Das Blitzen der Regentropfen, das Schimmern der Silberbestecke, die neuen Mikrofaserstaubtücher, der Duft der Holunderblüten! Wie schön war der Novembernebel, wenn alles verschwand und gegen Mittag kurz und wie werweißwas auftauchte! Was sollte sie ihrem klagenden Ehemann Erwin, ursprünglich erfolgreicher Unternehmer im Sanitärbereich, bloß antworten?
An diesem Morgen, einem Freitag, wurde ihr bei der Zeitschriftenlektüre in Elsas Wartezimmer ein Trost in die Hände gespielt, den sie auf der Stelle als solchen erkannte. Sie wußte nicht weshalb, aber sie war sich seiner wenigstens temporären Wirkung sicher.
»Erwin«, sagte sie, hochzufrieden mit ihrem Fund. »Hör dir das an! Man hat erforscht, daß Krähen, die ja intelligent wie alle Rabenvögel sind, bisher unvermutete Fähigkeiten besitzen. Sienehmen die genaue Physiognomie menschlicher Gesichter wahr, vor allem: Sie merken sie sich! Noch nach Jahren identifizieren sie mit den kleinen schwarzen Knopfaugen Freund und Feind. Unsere guten und bösen Handlungen gegen sie sind aufgeschrieben, abrufbar im kleinen Vogelhirn.«
Da der Mann keine Miene verzog, fügte sie hinzu: »Besiegelt ist unser Untergang also, Erwin, begreif das doch, keineswegs.«
Ob Erwin das tatsächlich freute?
Herbert Wind
Als die Koffer gepackt sind, macht Herbert Wind wegen der Vorfreude und zur Beruhigung das Fernsehen an. Düstere Wirtschaftsprognose für das kommende Jahr, Ehrung zum Gedächtnis der Kriegstoten. Schön und gut! Aber die schnellen Schritte der jungen Frau draußen, tack tack, diese akustische Wonne, sich nähernd, nah, sich entfernend, in diesem Augenblick, wer achtet darauf? Wir sind betrogen um die winzige Spanne der Gegenwart, sagt sich Herbert, doch, das sind wir. Immer wird vorausgeeilt oder zurückgeblickt.
Morgen geht’s los. Herbert Wind besitzt eine kleine Wohnung in den Bergen. Ob sie, die Wohnung, schon ein bißchen zittert in Erwartung von Herbert? Ob sie spürt, wie er ihr entgegenwächst und -rast, über Brücken, durch Tunnel? Wie der Zug sich unaufhaltsam auf dem letzten, kurvenreichen Abschnitt höherschraubt? Wind stellt sich vor, daß sie schließlich erregt auf seine Schritte horcht. Zum Spaß ruft er am frühen Morgen dort an. Die menschenleere Wohnung geht nicht ans Telefon, soll aber in Vorlust durch das Klingeln zum Beben gebracht werden.
Wenn er wieder zurück ins Flachland fährt, wird sie ihm lange, lange nachträumen, auch ein wenig nachtrauern, bis sie ihn aus den Augen und Herbert sich in der Mannheimer Ebene verliert.
Nimmersatt Pratz
Der ohnehin verdammt Hochgeehrte soll, als er schon unter der Last seiner Orden und Verdienstkreuze fast zusammenbrach, so will ein Gerücht, um auch nach seinem Tod für Publikum und Wissenschaft lebendig zu bleiben, »geheime« Briefe, indiskrete Tagebuchnotizen überall in seiner Wohnung und seinen Ferienniederlassungen, auch bei angeblichen »Geliebten«, versteckt haben, und zwar mit dem schriftlichen Befehl: »Erst 20 Jahre nach meinem Ableben veröffentlichen!«, »Erst in 50 Jahren für die Öffentlichkeit bestimmt«, »Erst in 108 Jahren zugänglich machen!« In seinen reiferen Lebensjahren hat er offenbar ausschließlich an der vorsorglichen Konstruktion einer posthumen Enthüllungsgeschichte, seine Biographie und sein Wirken betreffend, gearbeitet, immer hinter verschlossenen Türen. Selten die Ehefrau, öfter die »Geliebten« hörten ihn manchmal jovial lachen und »köstlich!« rufen, durch die Wände hindurch. Auch anwesende Katzen spitzten anfangs die Ohren, waren es aber noch schneller als die anderen leid.
Unverstand
Die Studentin Katja, die mal brünett, mal blond, auch schwarzhaarig in Erscheinung tritt und über einen patzigen kleinen Mund und hübsche, leicht ins Glubschige gehende Augen verfügt, erfreut die Welt mit einem meist freizügigen Dekolleté, das zu den Brustspitzen hin milchweiß wird. Einmal war sie sechs Wochen in Kenia in der Entwicklungshilfe tätig, vielleicht gegen Aids, man weiß es nicht genau. Diese Katja rühmte vor vierzehn Tagen ihre Mutter, die eine schöne Frau gewesen sei, schon jetzt aber, reichlich früh, immer krummer werde. Anstatt darüber zu weinen, habe die Mutter
Weitere Kostenlose Bücher