Gewalt ist eine Loesung
beschimpft, bedroht und angerempelt, ohne dass wir uns zu wehren wussten. Und ohne zu wissen, was wir eigentlich verbrochen hatten. An manchen Tagen warteten ein paar von ihnen an der Bushaltestelle vor unserem Haus. Jeden Morgen suchte ich von meinem Zimmerfenster aus die Gegend um die Haltestelle herum ab, um zu sehen, ob die Luft rein war.
Was wird heute passieren? Das fragte ich mich fast jeden Morgen. Würden sie uns verprügeln, wie in der Vergangenheit ständig angekündigt? Würden sie uns wieder durch den Bus stoßen, anrempeln und beleidigen? Die Kinder auf dem Weg zur Schule hatten nur noch Angst. Nicht nur Thomas und ich waren das Ziel ihrer Attacken – alle, die nicht Teil dieser Türken-Gang waren, mussten ständig mit dem Schlimmsten rechnen. Mein Magen begann regelmäßig zu brennen, wenn ich morgens verstohlen aus meinem Zimmerfenster schaute und einen von ihnen sah. Wie viele würden in der »Bronx« noch zusteigen? Und würden sie mir heute vielleicht eine knallen? Oder mich bespucken, wie sie es gestern mit Thomas getan hatten? Wir waren mittlerweile 16 Jahre alt und nach zwei Jahren Angst und Demütigungen von harmlosen Jugendlichen zu wütenden jungen Männern gereift. Es musste endlich etwas geschehen – und es sollte etwas geschehen.
Wir mussten uns rüsten. In die umliegenden Kampfsportschulen konnten wir nicht gehen, weil genau dort auch unsere türkischen Gegner und deren Freunde trainierten. Also besorgten wir uns einen Sandsack, befestigten ihn an der Decke unseres Wäschekellers und droschen stundenlang darauf ein. Dazu machten wir Liegestütze auf den Fäusten, so wie wir es in Chuck-Norris-Filmen gesehen hatten. Das gab Kraft und härtete die Hände ab. Wir trainierten wie besessen und meldeten uns nach einiger Zeit in einem Fitness-Studio zum Boxtraining an. Der Laden musste gut sein, schließlich verkehrten und trainierten zahlreiche Bielefelder Türsteher in dem Studio. Unser Plan begann langsam zu reifen.
Frank schloss sich uns an. Damals, mit 16 Jahren, war er schon 1,95 Meter groß und wog knapp 100 Kilo. Uns verband die gemeinsame Leidenschaft zur Arminia Bielefeld und zu unserer Hobby-Mannschaft, mit der wir jedes Wochenende kickten. Frank, Thomas und ich trainierten zweimal die Woche mehrere Stunden und wurden in kürzester Zeit so fit, dass wir uns zusätzlich zum Boxtraining auch noch beim Kickboxen anmeldeten. Es dauerte keine sechs Monate und aus uns Milchbubis wurden junge Kämpfer. Stark, trainiert, ausgebildet und zu vielem bereit. Und uns war klar: Von nun an würden wir unsere Haut teuer verkaufen. Demütigungen, Beleidigungen und Anfeindungen würden wir uns ab sofort nicht mehr gefallen lassen. Und schon bald sollte es zum High Noon kommen.
Thomas und ich saßen im Schulbus und wie erwartet stiegen in der »Bronx« die vier türkischen Jungs ein. Sie steuerten sofort auf den hinteren Busteil zu und pöbelten uns schon vom Eingang aus an. Thomas und ich blickten uns nur kurz an, nickten uns zu und standen von unseren Sitzen auf. Wir wussten, was wir zu tun hatten. Die Fahrten, bei denen wir eingeschüchtert sitzen geblieben waren, gehörten nun endgültig der Vergangenheit an. Ab sofort würden wir ihnen zeigen, wer künftig Angst vor dem Schulweg haben sollte.
Und dann ging es ganz schnell: Der erste Türke versuchte, Thomas mit dem rechten Arm vor die Brust zu stoßen. Doch der wich geschickt aus und knallte ihm blitzschnell die rechte Faust aufs Auge. Da das Ganze so überraschend kam, setzte er direkt eine Links-rechts-Kombination nach, was die anderen drei in eine Art Schockstarre versetzte. Der Türke, der mir am nächsten stand, bekam mit voller Wucht meine rechte Faust auf die Nase, die in Sekundenschnelle am oberen Kamm platzte und sofort blutete. Der Junge hielt seine blutende Nase, beugte sich nach vorne und wimmerte vor Schmerzen. Seine beiden Kumpels starrten wie gelähmt auf diese bizarre Szenerie, schnappten die beiden verletzten Freunde am Arm und verließen an der folgenden Haltestelle fluchtartig den Bus. Adrenalin und Endorphine durchjagten unsere Körper. Völlig aufgeputscht blieben wir im Bus stehen und blickten in die erschrockenen Gesichter der anderen Schüler. Dann nickten uns die ersten anerkennend zu und der Busfahrer, der die Auseinandersetzung im Rückspiegel beobachtet hatte, setzte – ohne ein Wort zu sagen – die Fahrt zur Schule fort. Thomas und ich schauten uns schweigend an. Was war das? Hatten wir es getan? Hatten wir uns
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