Gewalt ist eine Loesung
derart viele Polizisten unterwegs waren. Wir boten uns auch an, ihre beiden sperrigen Koffer zu tragen, was die Frau uns überschwänglich dankte. Auf dem Bahnsteig herrschte tatsächlich ein rücksichtloses Gedränge und Geschiebe. Wir gaben der alten Dame zu verstehen, dass wir ihr Gepäck noch über die Treppen des Bahnsteigs hoch in die Bahnhofshalle tragen würden, wo sie sich dann einen Gepäckwagen zu den Taxiständen nehmen könnte.
Paul und ich ließen uns – jeder mit einem Koffer bepackt – mit der Masse in Richtung Ausgang treiben. Die Treppen des Bahnsteiges runter, durch einen 40 Meter langen Tunnel hindurch und die Treppen zur Bahnhofshalle wieder hoch. Wir durchquerten die Halle und erreichten endlich die Taxistände vor dem Bahnhof. Die amerikanische Oma allerdings war weg.
Da standen wir nun, warteten, öffneten eine weitere Dose Bier, tranken, lachten – aber unsere neue Freundin war noch immer nicht da. Wir waren betrunken, müde und erschöpft und die Warterei wurde lästig. Paul winkte ein Taxi herbei, wir stiegen ein und fuhren davon. Mit den Koffern der amerikanischen Touristin. Wir hatten sie einfach geklaut.
Der Taxifahrer musterte uns misstrauisch. Zwei besoffene Fußball-Fans mit großem Gepäck? Nicht gerade der Normalfall, aber er konnte ja nicht ahnen, was wir uns da gerade geleistet hatten. Paul und ich fanden diese Sache rasend komisch. Wir lachten uns fast kaputt und beschlossen noch während der Fahrt, dass wir unbedingt einen Blick in die beiden Gepäckstücke der Amerikanerin werfen müssten. Ich schlug vor, zu der Wohnung meiner Freundin zu fahren. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie noch mit ihren Mädels unterwegs war, da sie ja davon ausgehen musste, dass es bei mir an diesem Abend spät werden würde. Bei ihr könnten wir in aller Ruhe den Inhalt der Koffer überprüfen. Wir lachten uns krank und fühlten uns wie zwei Piraten, die endlich die seit Jahrhunderten verborgene Schatztruhe gefunden hatten.
Meine Freundin saß im Wohnzimmer. Sie war nicht mit ihren Freundinnen ausgegangen. Sie saß da und starrte uns entsetzt an. Was mag in diesem anständigen Mädchen wohl vorgegangen sein, als an diesem Samstagabend plötzlich gegen 21 Uhr zwei besoffene Jungs mit fremden Koffern vor ihr standen? Heute kann ich es mir denken: Sie war erschrocken, empört und wahnsinnig enttäuscht. »Was sind das für Koffer?«, wollte sie sofort wissen. Eine vernünftige Antwort konnte sie nicht bekommen. Nicht in diesem Zustand, nicht in dieser Situation. Unsere blöden Anspielungen schienen sie derart zu nerven, dass sie die beiden Koffer einfach öffnete. Sie sah Bekleidungsstücke einer älteren Frau, Medikamente, medizinische Geräte – und Goldschmuck. Also doch eine Schatztruhe, wie wir vermutet hatten. Eine coole Sache!
Nach dem ersten Schock war Katja plötzlich voll da. »Stefan, das kann nicht dein Ernst sein. Du bist Polizeibeamter. Nicht nur, dass du zum Fußball fährst und dich prügelst – dazu sage ich ja schon gar nichts mehr. Aber jetzt kommst du auch mit zwei gestohlenen Koffern nach Hause. Das darf ja wohl nicht wahr sein.« Sie redete sich in Rage: »Wann wirst du endlich vernünftig? Ich dachte, wir wollen mal heiraten und eine Familie gründen? Aber immer nur diese blöden Fußballgeschichten. Ich kann das nicht mehr ertragen. Und mit gestohlenen Koffern will ich nichts zu tun haben. Los, raus aus meiner Wohnung!«
Sie klappte die Kofferdeckel zu und drängte uns zur Tür. Ich konnte in diesem Moment gar nichts mehr sagen. Sie hatte ja recht! Mit allem, was sie sagte. Sie hatte recht. Ihre Wut und ihre Enttäuschung waren begründet. Und ich brachte keinen einzigen Ton heraus. Was sie vermutlich noch wütender machte, denn Katja stieß Paul und mich aus der Wohnung, knallte die Tür zu und schloss von innen ab.
Das hatte gesessen. Draußen auf der Straße stellten wir die Koffer ab und ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wir hatten zwei Gepäckstücke geklaut. Ein alte Dame bestohlen. Ein amerikanisches Mütterchen, das auch noch nett zu uns war. Was waren wir nur für Helden! Und was war eigentlich mit mir los? Wie tief wollte ich noch sinken? Ich suchte nach Rechtfertigungen, aber die waren lächerlich. Wir wollten die Koffer ja nicht klauen. Das war ja nicht geplant. Es war eine Laune. Nur eine dumme Idee aus zwei betrunkenen Köpfen, mehr nicht. Wir wollten das doch nicht. Wir wollten das tatsächlich nicht tun? Vielleicht! Aber wir hatten es
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