Gewalt ist eine Loesung
Thomas bereits verhaftet worden war. Er stünde mit auf dem Rücken gefesselten Händen am Streifenwagen. Vermutlich war sein Hemd verrutscht und seine Knast-Tätowierung zu sehen – und der Schriftzug »Bielefeld Hooligans«. So eine Scheiße! Ich schaute mich aufgeregt um, aber das »Cobra« verfügte weder über einen Hinter- noch einen Notausgang. Die Kneipe befand sich im ersten Stock und die Fenster waren abgeschlossen, somit fiel auch ein Sprung aus einem Fenster aus. Es gab keinen Ausweg mehr.
In meinem Gehirn legte ich sofort den Schalter auf Polizeimodus um. Schlagartig nüchtern, spielte ich alle denkbaren Optionen durch. Wie würden sich die eingesetzten Polizeibeamten verhalten? Wie würde ich selbst vorgehen, wenn ich an ihrer Stelle gerufen worden wäre? Worauf müsste ich unbedingt achten? Ich ermahnte mich innerlich zur vollen Konzentration. Bleib ruhig, denk nach. Mach jetzt keinen Fehler.
Wie würde dieser Typ mich beschreiben? Was war das Auffälligste an mir? Meine auffällig blau gemusterte Kapuzenjacke? Weg damit! Diese Jacke würde meinen Polizeikollegen sofort ins Auge springen. Weg, ausziehen, sofort!
Fieberhaft beobachtete ich den Eingangsbereich. Und da kamen sie auch schon. Zwei Beamte und der Penner mit der gebrochenen Nase. Ich brauchte einen Fluchtweg. Verflucht! Wie konnte ich hier denn wieder rauskommen? Noch einmal scannte ich das Lokal ab. Das »Cobra« teilte sich durch die große, hufeisenförmige Theke in zwei Teile. Wenn sie die überfüllte Kneipe nach mir absuchen wollten, müssten sie sich trennen oder einmal im Kreis herumgehen. Dies könnte vielleicht meine Chance sein. Allerdings nur dann, wenn sie nicht einen dritten Beamten an der Tür platzierten. So würden sie sicherstellen, dass niemand unkontrolliert den Laden verlassen konnte.
Ich musste auf einen Fehler hoffen. Und die beiden Polizisten machten diesen taktischen Fehler tatsächlich. Sie hatten versäumt, an der Tür einen Sicherungsposten zu platzieren. Die anderen Beamten waren vermutlich unten auf dem Klosterplatz mit Thomas und den Jungs beschäftigt. Ich hatte meine Chance bekommen.
Die Polizisten starteten ihren Rundgang. Worauf würden sie noch achten? Augenkontakt! Ja, das hatte ich gelernt: Augen lügen nicht. Kaum ein Mensch kann in einer solchen Situation derart cool bleiben, ohne dass ihn seine Augen verraten würden. Also: Augenkontakt vermeiden. Jeder noch so flüchtige Blick würde mich verraten.
Sie bewegten sich auf der einen Seite der Theke langsam durch das Gewühl. Ich setzte mich vorsichtig auf der anderen Seite in Bewegung. In dem dichten Gedränge gelang es mir, bis dahin unbemerkt zu bleiben. Um jeglichen Augenkontakt zu verhindern, schaute ich nach rechts zur Wand hin. Ein entsetzlicher Spagat. Einerseits entging ich so der Versuchung, nach meinen Widersachern zu schauen, andererseits bohrte in mir die Ungewissheit, ob sie mich nicht vielleicht schon entdeckt hatten.
Gegen diese Neugier musste ich ankämpfen. Weitergehen! Bloß nicht aufschauen! Weiter. Immer weiter im Slalom durch die zahlreichen Gäste hindurch. Nur die Theke trennte mich von den Beamten. Fünf lausige Meter und ich wäre am Ende. Fünf Meter waren es etwa auch noch bis zum Ausgang. Dann noch drei, zwei – einen Meter. Ich war draußen im Treppenhaus. Bis hierhin hatte ich es geschafft. Aber würde ich auch an den Polizisten unten vor der Tür vorbeikommen? Ich musste meinen unauffälligen Schlendergang unbedingt beibehalten. Bloß nicht hektisch werden – nur nicht auffallen!
Als ich um die erste Ecke bog, standen mir plötzlich die beiden Kumpels meines Widersachers gegenüber. Der eine verfolgte den Ärger draußen vor der Tür, der andere schaute mich panisch-erschrocken und überrascht an. Er hatte mich erkannt. Scheiße, er hatte mich wiedererkannt. Ohne Umschweife ging ich energisch einen Schritt auf ihn zu und schaute ihm direkt in die Augen. In meinen Augen stand nur noch der blanke Zorn. Jetzt war alles egal. Meine Zukunft, meine Vergangenheit, die Gegenwart – egal. Da war nur noch Wut und Hass in mir. Wenn er jetzt die Polizisten rufen würde, gäbe es ein Unglück. Der Typ sah mich verängstigt an – und er schwieg.
Das Gesellschaftshaus verließ ich, als gerade der dritte Streifenwagen mit Blaulicht vorfuhr. Drei Polizisten standen in der Nähe des Haupteingangs und starrten auf die Gäste, die nun scharenweise das »Cobra« verlassen wollten. Ich wendete mein Gesicht ab und schaute zur Seite.
Weitere Kostenlose Bücher