Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
Vom Netzwerk:
wird.) Als zum ersten Mal Lebensversicherungen angeboten wurden, waren Menschen empört über den Gedanken, einem Menschenleben einen Wert in Dollar und Cent beizumessen und Ehefrauen zu erlauben, auf den Tod ihres Mannes zu wetten – beides sind fachlich zutreffende Beschreibungen für die Funktionsweise einer Lebensversicherung. [1829] Die Versicherungsbranche bemühte sich mit Werbekampagnen darum, das Produkt in einen neuen Zusammenhang zu stellen und es als Akt der Verantwortung und des Anstandes aufseiten des Ehemannes zu zeichnen, der nur für eine Zeit, in der er zufällig nicht mehr am Leben ist, seine Pflicht gegenüber der Familie erfüllt.
    Tetlock unterscheidet zwischen drei Arten des Tauschhandels. Der
Routine
-Tauschhandel spielt sich im Geltungsbereich eines einzigen Beziehungsmodells ab, beispielsweise wenn man sich entscheidet, sich mit einem Freund und nicht mit einem anderen zu treffen, oder wenn man dieses oder jenes Auto kauft. Beim
Tabu
-Tauschhandel wird ein geheiligter Wert aus einem Modell gegen einen säkularen Wert aus einem anderen getauscht, beispielsweise wenn man Verrat an einem Freund oder Angehörigen begeht, ein Organ oder sich selbst verkauft und im Gegenzug Naturalien oder Geld erhält. Der
tragische
Tauschhandel besteht darin, dass ein geheiligter Wert gegen einen anderen eingetauscht wird, beispielsweise wenn man entscheidet, welcher von zwei Transplantationspatienten das einzige verfügbare Organ erhält; die höchste Form des tragischen Tauschhandels ist Sophies Entscheidung zwischen dem Leben ihrer beiden Kinder. Wie Tetlock deutlich macht, besteht die Kunst der Politik zu einem großen Teil darin, Tabu-Tauschhandel zum tragischen Tauschhandel umzudeuten (oder, wenn man in der Opposition ist, das Umgekehrte zu tun). Ein Politiker, der die Sozialsysteme reformieren will, muss seine Absicht vom »Vertrauensbruch gegenüber den älteren Mitbürgern« (die Formulierung seines Gegners) in »Entlastung der Erwerbstätigen« oder »Schluss mit dem Geiz bei der Ausbildung unserer Kinder« umdeuten. Die Entsendung von Truppen nach Afghanistan wird von »wir bringen das Leben unserer Soldaten in Gefahr« in »wir stehen zum Engagement unseres Landes für die Freiheit« oder zum »Sieg im Krieg gegen den Terror« umgedeutet. Wie wir noch genauer erfahren werden, ist die Umdeutung geheiligter Werte vermutlich eine vielfach übersehene psychologische Taktik bei der Herstellung von Frieden.
     
    Die neuen Theorien über das Moralgefühl bieten also möglicherweise eine Erklärung für moralische Empfindungen, moralische Abgrenzung und Tabus. Wenden wir sie nun einmal auf die unterschiedlichen moralischen Vorstellungen verschiedener Kulturen und – entscheidend – verschiedener historischer Epochen an.
    Viele Formen der Zuordnung eines Beziehungsmodells zu einer Gruppe sozialer Rollen fühlen sich für die Menschen aller Gesellschaften natürlich an und dürften ihre Wurzeln in unserer Biologie haben. Dazu gehören das Gemeinschaftsgefühl unter Familienmitgliedern, eine Autoritäts-Rangfolge innerhalb der Familie, derentwegen Menschen ihre älteren Verwandten respektieren, und der Austausch grundlegender Waren oder alltäglicher Gefälligkeiten nach dem Prinzip der Herstellung von Gleichheit. In anderen Fällen jedoch kann es bei der Zuordnung eines Beziehungsmodells zu einer Ressource oder einer Gruppe sozialer Funktionen in verschiedenen Epochen und Kulturen tiefgreifende Unterschiede geben. [1830]
    In der traditionellen abendländischen Ehe zum Beispiel übte der Ehemann gegenüber seiner Frau die Autorität aus. Dieses Modell wurde in den 1970 er Jahren zum größten Teil über den Haufen geworfen, und manche vom Feminismus beeinflussten Paare wechselten zur Herstellung von Gleichheit: Hausarbeit und Kindererziehung wurden gleichmäßig verteilt, und über die Stunden, die man ihnen widmete, wurde streng Buch geführt. Da aber die geschäftsmäßige Psychologie der Herstellung von Gleichheit im Konflikt zu der Intimität steht, nach der die meisten Paare streben, haben sich moderne Ehepaare in der Mehrzahl der Fälle auf das gemeinschaftliche Teilen geeinigt – was bei vielen Frauen zu dem Gefühl führte, dass der Verzicht auf die genaue Verteilung der Beiträge zum Haushalt ihnen übermäßig viel Arbeit und zu geringe Wertschätzung einträgt. Die Partner können auch rational-legale Ausnahmen gestalten und beispielsweise einen Ehevertrag schließen oder in ihrem Testament

Weitere Kostenlose Bücher