Gewalt
selbst dann, wenn man keine echte Liebe zu ihm empfindet, zumindest schätzt. Andererseits bietet die Herstellung von Gleichheit auch eine Begründung für Vergeltung nach dem Prinzip »Wie du mir, so ich dir«: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Menschenleben um Menschenleben, Blut für Blut. Wie wir in Kapitel 8 erfahren haben, neigen sogar die Menschen in modernen Gesellschaften dazu, in der Bestrafung von Straftätern nicht nur eine allgemeine oder gezielte Abschreckung zu sehen, sondern eine gerechte Vergeltung. [1837]
Rational-legale Überlegungen, die in gebildeten und des Rechnens mächtigen Gesellschaften zum moralischen Repertoire hinzukommen, bringen keine eigenen Intuitionen oder Gefühle mit sich und können, für sich betrachtet, Gewalt weder begünstigen noch verhindern. Solange nicht allen Menschen ausdrücklich das Eigentum an ihrem eigenen Körper und ihrem Besitz zugestanden und gewährleistet wird, können sie durch unmoralisches Profitdenken in einer Marktwirtschaft durch Sklavenmärkte, Menschenhandel und die Öffnung fremder Märkte mit Kanonenbooten ausgebeutet werden. Und durch Einsatz quantitativer Hilfsmittel kann man die Verhältnisse der Opferzahlen in einem Hightech-Krieg maximieren. Aber wie wir noch genauer erfahren werden, kann man rational-legale Überlegungen auch in den Dienst einer utilitaristischen Moral stellen, die das Höchstmaß an Gutem für die größte Zahl von Menschen berechnet und gleichzeitig das Mindestmaß an legitimer polizeilicher und militärischer Macht ermittelt, das notwendig ist, um das Ausmaß der Gewalt insgesamt zu vermindern. [1838]
Wie sahen demnach die historischen Veränderungen in der Moralpsychologie aus, die eine Verminderung der Gewalt begünstigten und damit die Humanitäre Revolution, den Langen Frieden und die Revolutionen der Rechte möglich machten?
In welche Richtung der Wandel in den einschlägigen Modellen geht, ist klar. Fiske und Tetlock stellen fest: »Im Laufe der letzten drei Jahrhunderte gab es auf der ganzen Welt eine sich ständig beschleunigende Tendenz, durch die sich die Gesellschaftssysteme als Ganzes vom Gemeinschaftsgefühl über Autoritäts-Rangfolge und Herstellung von Gleichberechtigung in Richtung der Marktpreisbildung bewegten.« [1839] Und wenn wir die Umfrageergebnisse aus Kapitel 7 als Anhaltspunkt dafür nehmen, dass liberale und soziale Kräfte beim Wandel der Einstellungen an vorderster Front stehen und am Ende auch die Konservativen mitziehen, erzählen Haidts Befunde über die moralischen Anliegen von Liberalen und Konservativen die gleiche Geschichte. Wie gesagt: Wenn sie die Bedeutung der moralischen Anliegen beurteilen sollen, legen liberal und sozial eingestellte Menschen wenig Wert auf Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe und Reinheit/Heiligkeit (was Fiske unter dem Begriff des Gemeinschaftsgefühls zusammenfasst), und ebenso messen sie der Autorität/dem Respekt wenig Bedeutung bei. Stattdessen investieren sie ihre moralischen Bemühungen auf Schädigung/Fürsorge und Fairness/Gegenseitigkeit. Sozialkonservative dehnen ihr moralisches Portfolio auf alle fünf aus. [1840] Der Trend zu sozialen und liberalen Einstellungen ist demnach ein Trend weg von gemeinschaftlichen und autoritären Werten und hin zu Werten, deren Grundlage Gleichberechtigung, Fairness, Selbstbestimmung und juristisch durchsetzbare Rechte sind. Zwar würden möglicherweise sowohl Liberale als auch Konservative leugnen, dass es einen solchen Trend gibt, aber man braucht bloß zu bedenken, dass kein bedeutender konservativer Politiker heute Tradition, Autorität, Zusammengehörigkeitsgefühl oder Religion anführt, um die Rassentrennung zu rechtfertigen, Frauen aus dem Berufsleben fernzuhalten oder die Homosexualität zum Verbrechen zu erklären – Argumente, die noch vor wenigen Jahrzehnten im Schwange waren. [1841]
Warum könnte die Tatsache, dass immer weniger moralische Ressourcen in Gemeinschaftsgefühl, Heiligkeit und Autoritäten investiert werden, zu einem Rückgang der Gewalt führen? Unter anderem liegt es daran, dass Gemeinschaftsgefühl zur Legitimation von Stammesdenken und Hurrapatriotismus werden können, und Autorität kann staatliche Unterdrückung legitimieren. Ein allgemeinerer Grund besteht jedoch darin, dass die Einengung des Moralgefühls auf kleinere Gebiete weniger Übertretungen möglich macht, für die Menschen zu Recht bestraft werden können. Es gibt ein moralisches Fundament aus Selbstbestimmung und
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