Gewalt
Fairness, über das sich alle, Traditionalisten und Modernisten, Liberale und Konservative, einig sind. Niemand hat etwas dagegen, dass Räuber, Vergewaltiger und Mörder mit staatlicher Gewalt hinter Gitter gebracht werden. Aber die Vertreter der traditionellen Moral wollen auf diese allgemein anerkannte Schicht viele weitere Vergehen aufhäufen, die nichts mit Gewalt zu tun haben, wie Homosexualität, sexuelle Freizügigkeit, Gotteslästerung, Ketzerei, Schamlosigkeit und die Schändung heiliger Symbole. Damit ihre moralische Missbilligung etwas bewirkt, müssen die Traditionalisten den Leviathan dazu bringen, auch solche Vergehen zu bestrafen. Werden derartige Übertretungen aus den Gesetzbüchern gestrichen, haben die Behörden weniger Gründe, Menschen zusammenzuknüppeln, in Handschellen zu legen, zu verprügeln, ins Gefängnis zu werfen oder hinzurichten.
Die Verschiebung der gesellschaftlichen Normen in Richtung der Marktpreisbildung macht viele Menschen verrückt, sie wird aber zum Besseren oder Schlechteren den Trend in Richtung der Gewaltlosigkeit fortschreiben. Radikale Liberale, die das Modell der Marktpreisbildung mögen, werden Prostitution, Drogenbesitz und Glücksspiel entkriminalisieren; damit würden die Gefängnisse der Welt sich leeren, weil Millionen Menschen dort wegen solcher Vergehen festgehalten werden (ganz zu schweigen davon, dass Zuhälter und Drogenbarone den gleichen Weg gehen würden wie die Gangster der Prohibitionszeit). Die Entwicklung in Richtung der persönlichen Freiheit wirft die Frage auf, ob es moralisch
wünschenswert
ist, ein gewisses Maß an gesellschaftlich sanktionierter Gewalt gegen ein gewisses Maß an Verhaltensweisen einzutauschen, die vielen Menschen von ihrem Wesen her falsch erscheinen wie Gotteslästerung, Homosexualität, Drogenkonsum und Prostitution. Aber genau darum geht es: Ob es richtig oder falsch ist, der Rückzug des Moralgefühls aus seinen traditionellen Bereichen von Gemeinschaft, Autorität und Reinheit geht mit einem Rückgang der Gewalt einher. Und dieser Rückzug ist genau das Ziel des klassischen Liberalismus: die Freiheit des Individuums von Gruppenzwang und autoritärer Macht, verbunden mit Toleranz gegenüber persönlichen Entscheidungen, solange sie nicht die Freiheit und das Wohlbefinden anderer beeinträchtigen.
In modernen Gesellschaften geht die historische Entwicklung der Moral nicht nur weg von Gemeinschaftlichkeit und Autorität, sondern auch hin zu einer rational-legalen Organisation. Auch das ist eine friedensstiftende Entwicklung. Wie Fiske feststellt, ist die utilitaristische Moral mit ihrem Ziel, das möglichst Gute für die möglichst größte Zahl von Menschen zu sichern, ein Musterbeispiel für die Geisteshaltung der Marktpreisbildung (die ihrerseits einen Sonderfall des rational-legalen Modells darstellt). [1842] Wie bereits erwähnt wurde, führte der Utilitarismus eines Cesare Beccaria zu einer Neugestaltung der Bestrafung von Verbrechern: Der hohe Hunger nach Vergeltung wurde abgelöst von einer besser abgestimmten Politik der Abschreckung. Jeremy Bentham stellte mit utilitaristischen Überlegungen die rationalen Begründungen für die Bestrafung von Homosexuellen und die Misshandlung von Tieren in Frage, und John Stuart Mill setzte sich mit ihrer Hilfe als einer der Ersten für den Feminismus ein. Eine weitere Errungenschaft der Gewaltverminderung durch berechnete Verhältnismäßigkeit waren die nationalen Versöhnungsbewegungen der 1990 er Jahre, mit denen Nelson Mandela, Desmond Tutu und andere Friedensstifter eine Justiz, in der Gleiches mit Gleichem vergolten wurde, durch eine Mischung aus der Aufdeckung von Wahrheit, Amnestie und einer maßvollen Bestrafung für die schlimmsten Täter ersetzten. Das Gleiche gilt für den Grundsatz, auf internationale Provokationen nicht mit Vergeltungsschlägen zu reagieren, sondern mit Wirtschaftssanktionen und Eindämmungsstrategien.
Wenn die neueren Theorien der Moralpsychologie in die richtige Richtung gehen, gehören Intuitionen von Gemeinschaftsgefühl, Autorität, Heiligkeit und Tabu zur menschlichen Natur und werden uns immer begleiten, auch wenn wir uns darum bemühen, uns vor ihrem Einfluss abzuschirmen. Das ist nicht zwangsläufig ein Grund zur Beunruhigung. Beziehungsmodelle können kombiniert und eingebettet werden, und rational-legale Überlegungen, mit denen die Gewalt insgesamt so gering wie möglich gehalten werden soll, können die anderen geistigen Modelle
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