Gewalt
nicht anders zu erwarten, kam der Vorschlag nicht gut an. Die Absolutisten beider Seiten reagierten mit Wut und Empörung und erklärten, sie würden nötigenfalls auch zu Gewalt greifen, um sich einem solchen Abkommen zu widersetzen.
Einem Drittel der Teilnehmer wurde das Abkommen mit Ausgleichszahlungen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union versüßt, beispielsweise mit einer Milliarde Dollar pro Jahr auf die nächsten 100 Jahre oder mit der Garantie, dass die Menschen in Frieden und Wohlstand leben könnten. Als dieses Zuckerbrot auf dem Tisch lag, schwächten diejenigen, die keine Absolutisten waren, ihre Opposition erwartungsgemäß ein wenig ab. Die Absolutisten jedoch, die nun über einen Handel mit einem Tabu nachdenken mussten, waren sogar noch empörter, wütender und eher bereit, zur Gewalt zu greifen. So viel zu der Vorstellung vom rationalen Verhalten der Menschen, wenn es um politisch-religiöse Konflikte geht.
Das alles wäre recht deprimierend, gäbe es nicht Tetlocks Beobachtung, dass viele angeblich geheiligte Werte in Wirklichkeit nur pseudo-geheiligt sind und unter Umständen einem Kompromiss zugänglich werden, wenn der Tausch mit dem Tabu klug formuliert wird. In einer dritten Variation des hypothetischen Friedensabkommens wurde die Zweistaatenlösung mit einer rein symbolischen Erklärung des Feindes unterlegt, in der dieser von einem seiner geheiligten Werte abrückte. In dem Abkommen, das den israelischen Siedlern vorgelegt wurde, sollten die Palästinenser »alle Ansprüche auf ihr Rückkehrrecht, das ihnen heilig ist, aufgeben« oder sie sollten »die historischen und legitimen Rechte des jüdischen Volkes auf Eretz Israel anerkennen«. Nach dem Text, der den Palästinensern vorgelegt wurde, würde Israel »das historische und legitime Recht der Palästinenser auf ihren eigenen Staat anerkennen und sich für alles Unrecht entschuldigen, das dem palästinensischen Volk angetan wurde«, oder die Israelis sollten »das in ihren Augen heilige Recht auf das Westjordanland aufgeben« oder »symbolisch die historische Legitimität des Rückkehrrechts anerkennen« (es aber nicht real gewähren). Die Wortwahl war entscheidend. Im Gegensatz zu der Bestechung durch Geld oder Frieden verminderte das symbolische Abrücken des Feindes von einem heiligen Wert insbesondere dann, wenn gleichzeitig ein geheiligter Wert auf der eigenen Seite anerkannt wurde, die Wut, Empörung und Gewaltbereitschaft der Absolutisten. Durch die Verringerung schrumpfte die Zahl der Absolutisten auf beiden Seiten zwar nicht zu einer Minderheit, aber die Anteile waren so groß, dass das Ergebnis der jüngsten Wahlen möglicherweise ins Gegenteil verkehrt worden wäre.
Aus der Erkenntnis, dass sich die Moralpsychologie der Menschen in dieser Form manipulieren lässt, ergeben sich weitreichende Folgerungen.
Irgendetwas
zu finden, das die Gegnerschaft der israelischen und palästinensischen Fanatiker gegen jene Lösung des Konflikts aufweichen könnte, die in den Augen der ganzen übrigen Welt die einzig tragfähige ist, käme nahezu einem Wunder gleich. Die üblichen Hilfsmittel der diplomatischen Profis, die Parteien als rationale Akteure behandeln und sich darum bemühen, Kosten und Nutzen eines Friedensabkommens auszutarieren, können hier nach hinten losgehen. Die Beteiligten müssen als
moralistische
Akteure behandelt werden, und wenn man überhaupt einen Silberstreif am Horizont erkennen will, muss man den symbolischen Rahmen des Friedensabkommens manipulieren. Das Moralgefühl der Menschen ist nicht immer ein Hindernis für den Frieden, es kann aber dazu werden, wenn man der Geisteshaltung von Heiligkeit und Tabu freien Lauf lässt. Nur wenn diese Geisteshaltung unter der Herrschaft rationaler Ziele neu umgesetzt wird, liefert sie ein Ergebnis, das man wirklich als moralisch bezeichnen kann.
Welche äußeren Ursachen verschieben die Zuweisung moralischer Intuitionen weg von Gemeinschaft, Autorität und Reinheit hin zu Fairness, Selbstbestimmung und Rationalität?
Eine offenkundige Kraft ist die geographische und gesellschaftliche Mobilität. Die Menschen sind heute nicht mehr auf die kleine Welt von Familie, Dorf und Stamm beschränkt, in der Konformität und Solidarität für das Alltagsleben unentbehrlich sind, während Ausgrenzung und Exil eine Form des gesellschaftlichen Todes darstellen. Sie können ihr Glück auch in anderen Kreisen suchen, in denen sie mit weltanschaulichen Alternativen in
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