Gewalt
auf nützliche Weise und aus strategischen Gründen mit einbeziehen. [1843]
Wenn eine Version des Gemeinschaftsgefühls auf die Ressource des menschlichen Lebens angewendet wird und wenn die Gemeinschaft dabei nicht aus einer Familie, einem Stamm oder einer Nation besteht, sondern aus der gesamten Spezies, kann sie als emotionales Fundament für das abstrakte Prinzip der Menschenrechte dienen. Wir sind alle eine große Familie, und niemand in dieser Familie darf das Leben oder die Freiheit eines anderen vereinnahmen. Autorität und Rangfolge können das Monopol des Staates auf die Anwendung von Gewalt zur Verhinderung noch größerer Gewalt rechtfertigen. Und die Autorität des Staates über seine Bürger kann in andere Autoritätshierarchien in Form von demokratischem Ausgleich eingebettet werden, beispielsweise wenn der Präsident sein Veto gegen Gesetze des Kongresses einlegen kann, während der Kongress andererseits auch den Präsidenten anklagen und seines Amtes entheben darf. Geheiligte Werte und die Tabus zu ihrem Schutz kann man mit Ressourcen verknüpfen, die wir von ihrem Wesen her für kostbar halten, wie das Leben identifizierbarer Menschen, Staatsgrenzen und den Verzicht auf chemische und Nuklearwaffen.
Eine kluge neue Richtung der Psychologie des Tabus im Dienste des Friedens wurde kürzlich von Douglas Medin in Zusammenarbeit mit den Psychologen Jeremy Ginges und Douglas Atran sowie dem Politikwissenschaftler Khalil Shikaki untersucht. [1844] Theoretisch sollten Friedensverhandlungen in einem Umfeld der Marktpreisbildung stattfinden. Wenn Feinde die Waffen niederlegen, wird ein Überschuss erzielt – die sogenannte Friedensdividende –, und beide Seiten können sich darauf einigen, sie zu teilen. Jede Seite rückt von ihrer Maximalforderung ab, um sich eines Anteils an diesem Überschuss zu erfreuen, und der ist größer als das, was sie am Ende hätten, wenn sie den Verhandlungstisch verlassen und den Preis für die Fortsetzung des Konfliktes bezahlen.
Leider kann aber die Geisteshaltung von Heiligkeit und Tabu noch die am besten überlegten Pläne rationaler Geschäftemacher vereiteln. Wenn ein Wert in den Köpfen einer Konfliktpartei heilig ist, hat er einen unendlich großen Wert, und man kann ihn nicht gegen einen anderen Vorteil eintauschen, genau wie man auch das eigene Kind nicht für irgendeinen noch so hohen Preis verkaufen würde. Menschen, die von nationalistischem oder religiösem Eifer entflammt sind, haben gewisse heilige Werte wie die Souveränität über geweihten Boden oder die Erinnerung an frühere Gräueltaten. In solchen Fragen um des Friedens oder Wohlstandes willen Kompromisse zu schließen, ist tabu. Schon der Gedanke entlarvt den Betreffenden als Verräter, als Krämerseele oder als Hure.
In einem gewagten Experiment gaben die Wissenschaftler sich nicht mit der üblichen, bequemen Stichprobe aus einigen Dutzend Studienanfängern zufrieden, die für ein Trinkgeld Fragebögen ausfüllen. Stattdessen befragten sie echte Beteiligte des Konflikts zwischen Israel und Palästina: An ihrer Umfrage beteiligten sich mehr als 600 jüdische Siedler im Westjordanland, mehr als 500 palästinensische Flüchtlinge und über 700 palästinensische Studenten, von denen die Hälfte sich mit der Hamas oder dem palästinensisch-islamischen Dschihad identifizierten. Die Arbeitsgruppe fand in allen Gruppen ohne Schwierigkeiten Fanatiker, die ihre Forderungen für heilige Werte hielten. Ungefähr die Hälfte der israelischen Siedler gab an, es sei niemals zulässig, dass das jüdische Volk das Land Israel einschließlich Judäa und Samaria (die heute das Westjordanland bilden) aufgebe, ganz gleich, wie groß die Gegenleistung sei. Unter den Palästinensern gab mehr als die Hälfte der Studenten an, es sei unzulässig, Kompromisse in der Frage der Souveränität über Jerusalem zu machen, ganz gleich, wie groß die Gegenleistung sei; unter den Flüchtlingen waren 80 Prozent der Ansicht, es könne in der Frage des »Rückkehrrechts« der Palästinenser nach Israel keine Kompromisse geben.
Die Wissenschaftler unterteilten jede Gruppe in drei Untergruppen und legten ihnen ein hypothetisches Friedensabkommen vor, das von allen Seiten Kompromisse bei einem heiligen Wert forderte. Das Abkommen sah eine Zweistaatenlösung vor, wobei die Israelis sich aus 99 Prozent des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens zurückziehen würden, aber keine palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen müssten. Wie
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