Gewalt
anwenden, um damit seine biologischen Impulse (das Es) in Schach zu halten. Von Freuds eher exotischen Behauptungen (urtümlicher Elternmord, Todestrieb oder Ödipuskomplex) hielt Elias wenig; seine Psychologie ist durch und durch modern. In Kapitel 9 werden wir eine Fähigkeit des Geistes betrachten, die Psychologen als Selbstkontrolle, verzögerte Belohnung oder geringe Abzinsung der Zukunft bezeichnen, während Laien davon sprechen, erst einmal bis zehn zu zählen, die Pferde im Zaum zu halten, tief Luft zu holen oder die Faust in der Tasche zu ballen. [165] Wir werden ebenfalls eine Eigenschaft betrachten, welche die Psychologen Empathie, intuitive Psychologie, das Einnehmen von Perspektiven und Theorie des Geistes nennen, während Laien davon sprechen, sich in andere Leute hineinzuversetzen, die Welt aus ihren Augen zu betrachten, in die Haut eines anderen zu schlüpfen und ihren Schmerz zu fühlen. Elias nahm die wissenschaftliche Untersuchung dieser beiden besseren Engel vorweg.
Kritiker von Elias haben betont, dass alle Gesellschaften Standards der Schicklichkeit in Bezug auf Sexualität und Ausscheidungen haben, die vermutlich aus angeborenen Gefühlen von Reinheit, Ekel und Scham heraus entstanden sind. [166] Wie wir sehen werden, ist das Ausmaß, in dem Gesellschaften diesen Emotionen eine moralische Bedeutung beimessen, eine wichtige Dimension der Unterschiede zwischen den Kulturen. Obwohl es dem mittelalterlichen Christentum alles in allem sicher nicht an Reinheitsnormen mangelte, so scheinen sie am Ende der Liste kultureller Möglichkeiten gestanden zu haben.
Elias übersprang sogar eine wissenschaftliche Mode, indem er nicht behauptete, die Europäer der frühen Neuzeit hätten die Selbstkontrolle »erfunden« oder »konstruiert«. Er behauptete lediglich, dass sie in Wirklichkeit eine geistige Fähigkeit kultivierten, die immer zur menschlichen Natur gehörte, im Mittelalter aber nur in geringem Umfang genutzt wurde. »Es gibt keinen Nullpunkt«, schrieb er mehrmals im Zusammenhang mit dem historischen Wandel. [167] Wie die Menschen im Einzelnen ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung verstärken oder abschwächen, ist eine interessante Frage, wie wir in Kapitel 9 sehen werden. Es wäre möglich, dass die Selbstkontrolle einem Muskel ähnelt: Wenn man sie mit Tischmanieren trainiert, wäre sie demnach auch durch die Bank stärker und effektiver, wenn man sich selbst verbieten muss, den Menschen zu töten, der einen gerade beleidigt hat. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass eine bestimmte Stärke der Selbstkontrolle eine soziale Norm ist, ganz ähnlich wie die, dass man an einen anderen Menschen nicht zu nahe heranrücken darf oder dass ein gewisser Anteil des Körpers in der Öffentlichkeit bedeckt sein muss. Drittens wäre es auch denkbar, dass die Selbstbeherrschung je nach ihren Kosten und Nutzen in der lokalen Umwelt anpassungsorientiert abgestimmt wird. Schließlich ist Selbstbeherrschung nicht ausschließlich etwas Gutes. Hat man zu viel davon, kann ein Aggressor dies zu seinem Vorteil ausnutzen: Er rechnet damit, dass wir uns bremsen und nicht zurückschlagen, weil es zu spät wäre und keinen Nutzen mehr bringen würde. Hat er dagegen Anlass zu der Vermutung, dass wir uns allen negativen Folgen zum Trotz reflexhaft zur Wehr setzen werden, nimmt er vielleicht von vornherein mehr Rücksicht auf uns. In diesem Fall würden die Menschen ihren »Schieberegler« für die Selbstbeherrschung je nach der Gefährlichkeit der anderen in ihrem Umfeld unterschiedlich einstellen.
Von dieser Stelle an ist die Theorie des Zivilisationsprozesses unvollständig, denn sie greift auf einen Prozess zurück, der ein Teil der Phänomene ist, die sie erklären will. Sie besagt, ein Rückgang des gewalttätigen Verhaltens stehe im Zusammenhang mit einem Rückgang von Impulsivität, Ehrgefühl, sexueller Freizügigkeit, Unzivilisiertheit und Flegelhaftigkeit am Esstisch. Damit verheddern wir uns aber in einem Gewirr psychologischer Prozesse. Die Aussage, die Menschen würden sich weniger gewalttätig verhalten, weil sie gelernt haben, ihre gewalttätigen Impulse zu unterdrücken, kann kaum als Erklärung durchgehen. Außerdem können wir nicht voller Überzeugung behaupten, die Impulsivität der Menschen habe sich zuerst verändert und der Rückgang der Gewalt sei die Folge gewesen und nicht andersherum.
Allerdings nannte Elias tatsächlich einen äußeren Auslöser, der die ganze Sache in Gang brachte,
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