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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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nicht in der Nase. Trinke nicht aus deiner Schüssel, sondern benutze einen Löffel. Schlürfe nicht aus dem Löffel. Lockere bei Tische nicht deinen Gürtel. Wische einen schmutzigen Teller nicht mit den Fingern sauber. Rühre nicht mit den Fingern in der Soße. Hebe Fleische nicht an die Nase, um daran zu riechen. Trinke Kaffee nicht aus der Suppentasse.
    Im Kopf eines modernen Lesers setzen solche Ratschläge eine ganze Kette von Reaktionen in Gang. Wie gedankenlos, rüpelhaft, animalisch und unreif müssen diese Menschen gewesen sein! Heute würde man davon ausgehen, dass Eltern ihrem Dreijährigen solche Anweisungen geben, aber nicht, dass ein großer Philosoph sie einer gebildeten Leserschaft erteilt. Wie Elias jedoch betont, mussten wir uns die Gewohnheiten der Verfeinerung, Selbstbeherrschung und Überlegung, die uns zur zweiten Natur geworden sind, erst einmal aneignen – deshalb bezeichnen wir sie als
zweite
Natur –, und sie haben sich in Europa erst im Laufe seiner neueren Geschichte entwickelt.
    Schon die Menge der Ratschläge ist aufschlussreich. Die rund drei Dutzend Regeln sind nicht unabhängig voneinander, sondern sie drehen sich um wenige Themen. Höchstwahrscheinlich brauchte jeder von uns diese Regeln nicht einzeln zu lernen; mit anderen Worten: Wenn irgendeine Mutter sie ihrem Kind nicht ausdrücklich beigebracht hätte, würde der erwachsene Sohn dennoch die Nase nicht ins Tischtuch schnäuzen. Wenn man die prinzipiellen Themen begriffen hat, lassen sich die einzelnen Regeln in der Liste (und viele weitere, die hier nicht aufgeführt wurden) aus einigen wenigen Prinzipien ableiten: Man kontrolliert den eigenen Appetit, verschiebt Gegenleistungen auf später, berücksichtigt die Empfindlichkeiten anderer, benimmt sich nicht wie ein Bauer und distanziert sich von seiner animalischen Natur. Die Strafe für die Missachtung solcher Vorschriften war innerer Natur: ein Schamgefühl. Wie Elias feststellt, erwähnen die Benimmbücher kaum einmal Gesundheit und Hygiene. Heute wissen wir, dass das Ekelgefühl sich in der Evolution als unbewusste Abwehr gegen biologische Verunreinigungen entwickelt hat. [162] Aber Kenntnisse über Mikroorganismen und Infektionen besitzen wir erst seit dem späten 19 . Jahrhundert. Die einzige ausdrückliche Regel, die in den Etikettebüchern genannt wurde, lautete: Vermeide es, dich wie ein Bauer oder wie ein Tier zu benehmen und andere zu beleidigen.
    Auch sexuelle Betätigung fand im europäischen Mittelalter weit weniger diskret statt als heute. Die Menschen waren in der Öffentlichkeit häufiger nackt, und Paare trafen nur sehr oberflächliche Vorkehrungen, um ihren Geschlechtsverkehr zu etwas Privatem zu machen. Prostituierte boten ihre Dienste offen an (in vielen englischen Städten wurde das Rotlichtviertel als Gropecunt Lane – ungefähr »Fotzengrabschergasse« – bezeichnet). Männer diskutierten ihre sexuellen Heldentaten mit ihren Kindern. Die illegitimen Nachkommen eines Mannes hatten Umgang mit den ehelichen Kindern. Erst mit dem Übergang zur Neuzeit wurde solche Offenheit zum Anlass für Stirnrunzeln: Sie galt zunächst als pöbelhaft und später als nicht mehr hinnehmbar.
    Dieser Wandel fand seinen Niederschlag in der Sprache. Worte für die Landbevölkerung nahmen eine zweite Bedeutung an und bezeichneten nun auch Schändliches:
boor
(ursprünglich »Bauer«, später »Flegel«);
villai
n (vom französischen
vilein
 = »Leibeigener« oder »Dorfbewohner«, später »Bösewicht«);
churlish
(von
churl
 = Knecht, später »Grobian«);
vulgar
(»einfach«, später »ordinär«); und
ignoble
(ursprünglich »nicht adlig«, später »schändlich«). Viele der Wörter für die inkriminierten Dinge und Tätigkeiten wurden zu Tabus. Ursprünglich riefen Engländer beim Fluchen meist übernatürliche Kräfte an wie in
My God!
oder
Jesus Christ!
Zu Beginn der Neuzeit griffen sie stattdessen auf Ausscheidung und Sexualität zurück, und nun konnte man die »angelsächsischen Four-Letter-Words«, wie man sie heutzutage nennt, in anständiger Gesellschaft nicht mehr aussprechen. [163] Der Historiker Geoffrey Hughes stellt dazu fest: »Die Zeiten, in denen man einen Löwenzahn als
pissabed
, einen Reiher als
shitecrow
und den Turmfalken als
windfucker
bezeichnen konnte, sind ebenso vergangen wie die übertrieben-phallische Zurschaustellung der Schamkapsel.« [164] Weitere Wörter, die früher normal waren und später tabuisiert wurden, sind
bastard, cunt,

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