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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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und eigentlich sogar zwei. Der erste war die Festigung eines echten Leviathan, nachdem in Europa jahrhundertelang die Anarchie eines feudalistischen Mosaiks aus kleinen Herrschaftsgebieten und Stammesfürstentümern geherrscht hatte. Die zentralisierten Monarchien gewannen an Stärke, brachten die kriegführenden Ritter unter ihre Kontrolle und streckten ihre Arme bis an die äußersten Grenzen ihrer Territorien aus. Nach Angaben des Militärhistorikers Quincy Wright bestand Europa im 15 . Jahrhundert aus fünftausend unabhängigen politischen Einheiten (hauptsächlich Machtbereiche von Baronen und Fürstentümer), zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs im frühen 17 . Jahrhundert aus fünfhundert, zur Zeit von Napoleon im frühen 19 . Jahrhundert aus zweihundert und 1935 aus weniger als dreißig Einheiten. [168]
    Diese Konsolidierung politischer Einheiten war zum Teil ein natürlicher Konzentrationsprozess, in dessen Verlauf ein etwas mächtigerer Kriegsherr seine Nachbarn besiegte und damit zu einem noch mächtigeren Kriegsherrn wurde. Beschleunigt wurde die Entwicklung aber durch etwas, das die Historiker
Militärische Revolution
nennen: die Entwicklung von Feuerwaffen, stehenden Armeen und anderen aufwendigen Kriegstechnologien, die nur durch eine große Bürokratie und ausreichende Einnahmen unterhalten werden konnten. [169] Ein Berittener mit einem Schwert und einer Bande abgerissener Bauern hinter sich war den Massen von Infanterie und Artillerie, die ein echter Staat auf das Schlachtfeld schicken konnte, nicht gewachsen. Oder, wie der Soziologe Charles Tilly es formulierte: »Staaten erzeugen Kriege und umgekehrt.« [170]
    Revierstreitigkeiten zwischen den Rittern waren für die zunehmend mächtiger werdenden Könige lästig: Ganz gleich, welche Seite die Oberhand behielt, immer wurden Bauern getötet und Produktionskapazitäten zerstört, die aus ihrer Sicht besser zur Stärkung von Steuereinnahmen und Armeen gedient hätten. Und nachdem die Könige sich erst einmal als Friedensstifter betätigten – man sprach vom »königlichen Frieden« –, hatten sie einen Anreiz, alles richtig zu machen. Für einen Ritter war es riskant, die Waffen niederzulegen und dem Staat die Abschreckung seiner Feinde zu überlassen: Diese konnten darin ein Zeichen von Schwäche sehen. Der Staat musste seinen Teil der Abmachung einhalten, sonst hätten alle anderen das Vertrauen in seine friedensstiftende Macht verloren und ihre Überfälle und Racheakte wiederaufgenommen. [171]
    Fehden zwischen Rittern und Bauern sind nicht nur lästig, sondern auch eine vertane Gelegenheit. Während der Normannenherrschaft in England erkannte irgendein Genie, welche lukrative Möglichkeiten eine Nationalisierung der Justiz bot. Mord war vom Justizsystem über Jahrhunderte hinweg als Schädigung behandelt worden. Anstatt Rache zu nehmen, konnte die Familie des Opfers von der Familie des Mörders eine Schadensersatzzahlung verlangen, die als Blutgeld oder
wergild
(»Manngeld«) bekannt war (das
wer-
ist das gleiche Präfix wie in
Werwolf
 = »Menschwolf«). König Heinrich I. definierte Mord nun als Vergehen gegen den Staat und, damit gleichbedeutend, gegen die Krone. Mordfälle wurden nicht mehr als
John Doe gegen Richard Roe
verhandelt, sondern als
Die Krone gegen John Doe
(und später in den Vereinigten Staaten
Das Volk gegen John Doe
oder
Der Staat Michigan gegen John Doe
). Dieses System hatte die großartige Eigenschaft, dass das
wergild
(oftmals das gesamte Vermögen des Täters und zusätzliches Geld, das von seiner Familie eingesammelt wurde) nicht mehr an die Familie des Opfers ging, sondern an den König. Recht wurde von Gerichten gesprochen, die in regelmäßigen Abständen an einen Ort kamen und die dort aufgelaufenen Fälle verhandelten. Um sicherzustellen, dass man dem Gericht alle verübten Morde auch vorlegte, wurde jeder Todesfall von einem örtlichen Vertreter der Krone untersucht, dem Leichenbeschauer oder Coroner. [172]
    Nachdem Leviathan im Amt war, änderten sich die Spielregeln. Für einen Mann war es jetzt nicht mehr die Fahrkarte ins Glück, wenn er der schlimmste Ritter des jeweiligen Landesteils war; besser war es, wenn er eine Pilgerfahrt an den Königshof unternahm, um sich beim Herrscher und seinem Gefolge anzubiedern. Der Hof, der im Wesentlichen eine Regierungsbürokratie war, hatte für Hitzköpfe und unsichere Kantonisten keine Verwendung, sondern er suchte verantwortungsbewusste Verwalter für seine

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