Gewalt
Handel mit Überschüssen. Wenn ein Weizenbauer mehr Getreide hat, als er essen kann, und ein Milchbauer mehr Milch, als er trinken kann, geht es beiden besser, wenn sie Weizen und Milch gegeneinander eintauschen. Oder, wie man so sagt: Alle haben gewonnen. Ein Tauschhandel, der zu einem einzigen Zeitpunkt stattfindet, zahlt sich natürlich nur dann aus, wenn Arbeitsteilung stattfindet: Dass ein Bauer einem anderen einen Sack Weizen gibt und dafür einen Sack Weizen zurückbekommt, ist sinnlos. Hier liegt eine grundlegende Erkenntnis der modernen Wirtschaftswissenschaft: Ein Schlüssel zur Schaffung von Wohlstand ist die Arbeitsteilung – Spezialisten lernen, eine Ware mit zunehmender Kosteneffizienz herzustellen, und sie haben die Mittel, ihre speziellen Produkte effizient auszutauschen. Eine Infrastruktur für effizienten Austausch ist das Verkehrswesen, das es den Produzenten auch bei großen Entfernungen ermöglicht, mit ihren Überschüssen Handel zu treiben. Andere Elemente sind Geld, Zinsen und Makler: Sie schaffen die Möglichkeit, dass viele Produzenten viele verschiedene Überschüsse zu vielen Zeitpunkten an vielen Orten handeln können.
Durch Positivsummenspiele verändern sich auch die Anreize zur Gewaltausübung. Wenn man Gefälligkeiten oder Überschüsse mit anderen austauscht, sind die Handelspartner plötzlich lebendig wertvoller, als wenn sie tot sind. Darüber hinaus hat man einen Anreiz, ihre Wünsche vorauszusehen, damit man ihnen diese Wünsche im Austausch für das, was man selbst haben will, besser erfüllen kann. Viele Intellektuelle treten zwar in die Fußstapfen von Augustinus oder Hieronymus und betrachten Geschäftsleute voller Verachtung, in Wirklichkeit belohnt ein freier Markt aber das Einfühlungsvermögen. [176] Ein guter Geschäftsmann muss seine Kunden zufriedenstellen, sonst schnappt der Konkurrent sie ihm weg, und je mehr Kunden er hat, umso reicher wird er. Diesen Gedanken, der unter dem Begriff
doux commerce
(sanfter Handel) bekannt wurde, formulierte der Wirtschaftswissenschaftler Samuel Ricard 1704 :
Der große Handel bindet [die Menschen] aufgrund des gegenseitigen Nutzens aneinander … Durch den Handel lernen die Menschen nachzudenken, ehrlich zu sein, sich gutes Verhalten anzugewöhnen, vorsichtig und zurückhaltend im Gespräch und in ihren Handlungen zu sein. Der Mensch empfindet die Notwendigkeit, weise und ehrlich zu sein, um Erfolg zu haben; er flieht vor dem Laster, oder zumindest zeigt er in seinem Verhalten Anstand und Ernsthaftigkeit, um von seiten seiner gegenwärtigen und zukünftigen Bekannten nicht ungünstig beurteilt zu werden. [177]
Damit sind wir bei der zweiten äußeren Ursache des Wandels. Wie Elias feststellt, fingen die Menschen im Spätmittelalter an, sich aus der technischen und wirtschaftlichen Stagnation zu befreien. Geld trat zunehmend an die Stelle des Tauschhandels, was durch die größeren nationalen Territorien mit einer allgemein anerkannten Währung erleichtert wurde. Der Straßenbau, der seit römischer Zeit brach gelegen hatte, verstärkte sich wieder, so dass der Gütertransport nun nicht nur entlang der Küsten und schiffbaren Flüsse möglich war, sondern auch im Hinterland. Der Transport mit Pferden wurde ebenfalls leistungsfähiger: Man verwendete jetzt Hufeisen, welche die Hufe vor Pflastersteinen schützten, und Geschirre, die das arme Pferd nicht mehr würgten, wenn es eine schwere Last zog. Auch Karren mit Rädern, Kompasse, Uhren, Spinnräder, Webstühle mit Fußhebelbetätigung, Wind- und Wassermühlen wurden im Spätmittelalter vervollkommnet. Und die speziellen Fachkenntnisse, die zur Herstellung solcher technischen Geräte erforderlich waren, wurden von einem immer breiteren Spektrum von Handwerkern kultiviert. Diese Fortschritte führten zu Arbeitsteilung und damit auch zu größeren Überschüssen, so dass der Handelsapparat geschmiert wurde. Das Leben hielt für die Menschen mehr Positivsummenspiele bereit und minderte die Anziehungskraft von Nullsummen-Plünderungen. Um die Vorteile nutzen zu können, mussten die Menschen für die Zukunft planen, ihre Impulse unter Kontrolle halten, sich in andere hineinversetzen und alle weiteren sozialen und kognitiven Prozesse ausführen, die für das Wohlbefinden in sozialen Netzwerken notwendig sind.
Die beiden Auslöser des Zivilisationsprozesses, Leviathan und friedlicher Handel, hängen zusammen. Die Positivsummen-Kooperation beim Handel gedeiht am besten unter dem
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