Gewalt
Provinzen. Die Adligen mussten sich nun anders verkaufen. Sie mussten gute Manieren kultivieren, damit sie die Günstlinge des Königs nicht beleidigten, und ihre Einfühlung steigern, um zu verstehen, was diese wollten. Die für den Hof geeigneten Manieren wurden nun als »höflich« oder »Höflichkeit« bezeichnet. Die Etikette-Ratgeber, aus denen man erfuhr, was man mit dem eigenen Nasenschleim anzufangen hatte, waren ursprünglich Handbücher für Adlige, die wissen wollten, welches Verhalten am Königshof von ihnen erwartet wurde. Elias zeichnet die Abfolge über die Jahrhunderte nach, in denen Höflichkeit von den Aristokraten am Hof bis zur bürgerlichen Elite sickerte, die Umgang mit den Aristokraten hatte, und von dort zum Rest der Mittelschicht. Seine Theorie über den Zusammenhang zwischen der Zentralisierung staatlicher Macht und dem psychologischen Wandel in der Bevölkerung fasste er mit einem Schlagwort zusammen: Krieger wurden zu Höflingen.
Der zweite äußere Faktor, der sich im Spätmittelalter in den Ländern Europas auswirkte, war eine wirtschaftliche Revolution. Das Feudalsystem hatte eine einfache wirtschaftliche Grundlage: das Land und die Bauern, die darauf arbeiteten. Und, wie Immobilienmakler gern sagen: Grund und Boden ist die einzige Ware, die sich nicht vermehren lässt. Wenn jemand in einer auf Ländereien gegründeten Wirtschaft seinen Lebensstandard verbessern will oder wenn er ihn auch nur während einer Malthusianischen Bevölkerungsvermehrung aufrechterhalten möchte, besteht die Hauptmöglichkeit darin, die Nachbarimmobilie zu erobern. In der Sprache der Spieltheorie ist die Konkurrenz um Grund und Boden ein Nullsummenspiel: Der Gewinn des einen Spielers ist der Verlust des anderen.
Verstärkt wurde der Gedanke, dass die mittelalterliche Wirtschaft ein Nullsummenspiel war, durch die christliche Ideologie: Diese stand jeder kommerziellen oder technologischen Neuerung, mit der man aus einer bestimmten Menge physischer Ressourcen mehr Reichtum herausschlagen konnte, feindselig gegenüber. Tuchman erklärt es so:
Man sagte, Geld sei von Übel, nach Augustinus seien »Geschäfte als solche von Übel«, Gewinn über ein Minimum hinaus, das den Händler ernährt, sei Habgier, Geld mit Geld zu verdienen, indem man Zinsen für ein Darlehen fordere, sei die Sünde des Wuchers, Waren im großen einzukaufen und sie unverändert zu einem höheren Einzelhandelspreis zu verkaufen sei unmoralisch und vom Kirchenrecht verboten, und kurz gesagt, sei das Urteil des heiligen Hieronymus endgültig: »Ein Mann, der Kaufmann ist, kann Gott nur selten oder nie erfreuen.« [173]
Oder, wie mein Großvater es formuliert hätte: »Goyische kopp« – Heidenkopf. Die Juden wurden als Geldverleiher und Makler hinzugezogen, ebenso oft aber auch verfolgt und vertrieben. Verstärkt wurden wirtschaftliche Rückwärtsgewandtheit und technischer Stillstand dieser Epoche durch Gesetze, mit denen Preise auf einem »gerechten« Niveau festgeschrieben wurden; in diesem Niveau spiegelten sich die Kosten der Rohstoffe und der Preis der aufgewandten Arbeit wider. Tuchman erklärt: »Um zu gewährleisten, dass niemand einen anderen übervorteilte, verboten die Handelsgesetze Neuerungen bei Werkzeug oder Verfahren, das Unterbieten festgesetzter Preise, abendliche Arbeit bei künstlichem Licht, die Beschäftigung zusätzlicher Gehilfen, Ehefrauen oder minderjähriger Kinder und die Werbung für Waren oder das Anpreisen auf Kosten anderer.« [174]
In einem
Positivsummenspiel
stehen zwei Handelnde vor Entscheidungen, die das Los beider gleichzeitig verbessern können. Ein klassisches Positivsummenspiel aus unserem Alltag ist der Austausch von Gefälligkeiten: Jeder Beteiligte kann einem anderen bei geringem eigenen Aufwand einen großen Vorteil verschaffen. Beispiele sind Primaten, die sich gegenseitig die Zecken vom Rücken klauben, Jäger, die sich das Fleisch teilen, wenn einer ein so großes Tier erlegt hat, dass er es allein nicht sofort verwerten kann, und Gruppen von Eltern, die sich bei der Kinderbetreuung abwechseln. Wie wir in Kapitel 8 erfahren werden, lautet eine entscheidende Erkenntnis der Evolutionspsychologie: Die Kooperation unter Menschen und die dahinterstehenden zwischenmenschlichen Empfindungen wie Mitgefühl, Vertrauen, Schuldgefühle oder Wut wurden wegen ihres Nutzens im Positivsummenspiel von der Selektion begünstigt. [175]
Ein klassisches Positivsummenspiel aus der Wirtschaft ist der
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