Gewalt
Kindische des mittelalterlichen Menschen sicher übertrieben ist, gab es vermutlich in verschiedenen Epochen graduelle Unterschiede im Ausdruck von Emotionen. Elias beschäftigt sich in seinem
Prozeß der Zivilisation
ausführlich mit diesem Wandel in der Psyche der Menschen und belegt ihn mit Hilfe ungewöhnlicher Daten: mit Büchern über Benimmregeln. Heute halten wir solche Bücher wie
Stil und Etikette in unserer Zeit
oder den berühmten
Knigge
für eine Quelle praktischer Tipps, mit denen sich peinliche kleinere Sünden vermeiden lassen. Früher handelte es sich dabei jedoch um ernsthafte Anleitungen zu moralischem Verhalten, die von den führenden Denkern ihrer Zeit verfasst wurden. Der große Gelehrte Erasmus von Rotterdam zum Beispiel, einer der Wegbereiter der Moderne, schrieb 1530 ein Etikette-Handbuch mit dem Titel
De civilitate morum puerilium
(»Über den Anstand der Sitten von Knaben«), das während der folgenden zwei Jahrhunderte überall in Europa zum Bestseller wurde. Solche Werke schrieben Regeln dafür fest, was die Menschen der jeweiligen Zeit tun oder lassen sollten, und damit liefern sie uns eine Momentaufnahme von dem, was damals tatsächlich üblich war.
Die Menschen des Mittelalters waren, um es mit einem Wort auszudrücken, unappetitlich. Eine ganze Reihe von Ratschlägen in den Etikettebüchern beschäftigt sich mit der Beseitigung von Körperflüssigkeiten:
Verunreinige Treppenhäuser, Korridore, Kleiderschränke oder Wandbehänge nicht mit Urin oder anderem Schmutz. Erleichtere dich nicht vor Damen oder vor den Türen oder Fenstern der Kammern bei Hofe. Rutsche nicht auf deinem Stuhl vor und zurück, wenn du versuchst, Winde zu lassen. Berühre deine Geschlechtsteile unter deiner Kleidung nicht mit bloßen Händen. Begrüße nicht jemanden, der gerade uriniert oder Stuhlgang hat. Mache keinen Lärm, wenn du Winde fahren lässt. Lege nicht vor anderen deine Kleidung ab, um Stuhlgang zu haben, und lege sie hinterher nicht wieder an. Wenn du in einem Gasthaus das Bett mit einem anderen teilst, lege dich nicht so nahe zu ihm, dass du ihn berührst, und lege deine Beine nicht zwischen die Seinen. Wenn dir auf dem Bettlaken etwas Abstoßendes begegnet, wende dich nicht an deinen Bettgenossen, um es ihm zu zeigen, und halte das stinkende Ding nicht in die Höhe, damit der andere es riecht und sagt: »Ich wüsste gern, wie sehr das stinkt.«
In anderen geht es um das Naseschnäuzen:
Schneuze deine Nase nicht in das Tischtuch. Biete dein gebrauchtes Taschentuch keinem anderen an. »Es ziemt sich auch nicht, wenn du dir die Nase geschneuzt hast, das Taschentuch auszubreiten und anzustarren, als seien dir Perlen und Rubine aus dem Kopf gefallen.« [160]
Dann sind da die Feinheiten beim Spucken:
Spucke nicht in die Schüssel, wenn du dir die Hände wäschst. Spucke nicht so weit, dass du nach dem Speichel suchen musst, um den Fuß darauf zu setzen. Wende dich ab, wenn du spuckst, damit der Speichel nicht einen anderen trifft. »Wenn etwas Eitriges auf den Boden fällt, sollte man darauf treten, damit nicht einem anderen übel wird.« [161] Wenn du Speichel auf dem Mantel eines anderen bemerkst, ist es nicht höflich, darauf aufmerksam zu machen.
Und schließlich gibt es viele, viele Ratschläge zu den Tischsitten:
Nimm nicht als Erster aus der Schüssel. Falle nicht über das Essen her wie ein Schwein, rülpse nicht und schmatze nicht mit den Lippen. Drehe die Schüssel nicht so, dass das größte Stück Fleisch in deiner Nähe liegt. »Schlinge das Essen nicht hinunter, als würdest du gleich ins Gefängnis geworfen, und stecke nicht so viel Essen in den Mund, dass deine Wangen sich ausbeulen wie Blasebälge, und ziehe die Lippen nicht so auseinander, dass sie Geräusche machen wie ein Schwein.« Tauche die Finger nicht in die Soße in der Servierschale. Benutze den Löffel, den du in den Mund gesteckt hast, nicht, um Essen aus der Servierschale zu nehmen. Lege einen Knochen, den du abgenagt hast, nicht in die Servierschale zurück. Wische dein Besteck nicht am Tischtuch ab. Lege das, was du im Mund hattest, nicht wieder auf den Teller. Biete einem anderen kein Stück Essen an, von dem du schon abgebissen hast. Lecke deine fettigen Finger nicht ab, und wische sie nicht am Brot oder an deinem Mantel ab. Beuge dich nicht nach vorn, um aus deiner Suppentasse zu trinken. Spucke Knochen, Kerne, Eierschalen oder Schwarten nicht in deine Hand und wirf sie nicht auf den Fußboden. Bohre beim Essen
Weitere Kostenlose Bücher