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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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herrenlose Fisch ist Freiwild für den ersten besten, der ihn erbeutet. [184]
    Solche informellen Normen entwickelten sich bei Fischern, Bauern und Viehzüchtern in vielen Teilen der Welt. [185] Der Rechtswissenschaftler Robert Ellickson untersuchte in seinem Buch
Order Without Law: How Neighbors Settle Disputes
eine moderne US -amerikanische Version der uralten (und häufig gewalttätigen) Auseinandersetzung zwischen Viehzüchtern und Getreidebauern. In dem nordkalifornischen Kreis Shasta waren die traditionellen Rancher im Wesentlichen Cowboys, die ihre Rinder in der offenen Landschaft weiden ließen. Modernere Bauern hielten ihre Rinder in bewässerten, eingezäunten Gehegen, und beide Gruppen lebten mit Bauern zusammen, die Gras, Alfalfa und andere Nutzpflanzen anbauten. Herumstreifende Rinder reißen gelegentlich Zäune nieder, fressen die Nutzpflanzen, verunreinigen Wasserläufe und wandern auf den Straßen, wo sie von Fahrzeugen überfahren werden können. In dem ganzen Kreis gibt es »offene Gebiete«, in denen ein Eigentümer für die meisten Unfallschäden, die seine Rinder möglicherweise anrichten, nicht juristisch verantwortlich ist, und »geschlossene Gebiete«, in denen er strikt schadenersatzpflichtig ist, ganz gleich, ob er fahrlässig gehandelt hat oder nicht. Wie Ellickson feststellte, waren die Geschädigten solcher Unfälle aber häufig nicht geneigt, den Schaden auf juristischem Weg regulieren zu lassen. Die meisten Bewohner des Kreises – Viehzüchter, Bauern, Schadenssachbearbeiter von Versicherungen, ja sogar Anwälte und Richter – hatten schlichtweg falsche Vorstellungen von den gesetzlichen Vorschriften. Die Bewohner kamen aber ohne Hinzuziehung der Justiz zum Recht, weil sie sich an einige ungeschriebene Regeln hielten. Die Eigentümer von Rindern waren immer für die von ihren Tieren verursachten Schäden verantwortlich, ganz gleich, ob es sich um ein offenes oder geschlossenes Gebiet handelte. Von den Grundeigentümern wurde aber erwartet, dass sie »ein Auge zudrückten«, wenn es sich nur um geringfügige, gelegentliche Schäden handelte. Die Menschen behielten auf lange Sicht ungefähr im Kopf, wer wem was schuldete, und die Schulden wurden nicht bar beglichen, sondern in Naturalien (ein Rinderzüchter, dessen Kuh den Zaun eines anderen beschädigt hatte, brachte beispielsweise zu einem späteren Zeitpunkt ein verirrtes Rind des Geschädigten mit dem Auto zurück, ohne dafür Geld zu verlangen). Wer faul war oder sich nicht an die Regeln hielt, wurde mit Tratsch oder gelegentlich auch mit versteckten Drohungen oder kleineren Akten von Vandalismus bestraft. In Kapitel 9 werden wir einen tieferen Einblick in die Moralpsychologie dieser Normen nehmen, die in eine Kategorie mit dem Namen Gleichheits-Anpassung fallen. [186]
    So wichtig solche ungeschriebenen Normen auch sind, es wäre ein Fehler zu glauben, sie würden eine Regierung überflüssig machen. Die Rancher des Kreises Shasta riefen vielleicht nicht den Leviathan zu Hilfe, wenn eine Kuh einen Zaun umriss, aber auch sie lebten unter seinem Schatten und wussten, dass er eingreifen würde, wenn ihre informellen Sanktionen sich hochschaukelten oder wenn es um etwas Größeres ging, beispielsweise um Schlägereien, Mord oder Meinungsverschiedenheiten über Frauen. Wie wir sehen werden, ist ihr gegenwärtiges Niveau friedvoller Koexistenz selbst das Erbe einer lokalen Version des Zivilisationsprozesses. Im Jahr 1850 lag die jährliche Mordrate unter den nordkalifornischen Viehzüchtern bei 45 auf 100 000 , ähnlich wie im europäischen Mittelalter. [187]
    Dass die Theorie des Zivilisationsprozesses einen großen Teil der Erklärung für den Rückgang der Gewalt liefert, glaube ich nicht nur deshalb, weil sie den bemerkenswerten Rückgang der Morde in Europa voraussagte, sondern auch weil sie Voraussagen über die Zeitpunkte und Orte in der modernen Epoche macht, die sich im Gegensatz zum modernen Europa nicht der wunderbaren Quote von 1 je 100 000 und Jahr erfreuen. Zwei dieser Ausnahmen sind Regionen, die nie völlig vom Zivilisationsprozess durchdrungen worden sind: die unteren Schichten der sozioökonomischen Skala und die unzugänglichen oder unwirtlichen Gebiete der Erde. Und zwei davon sind Zonen, in denen sich der Zivilisationsprozess umgekehrt hat: die Industrieländer und die 1960 er Jahre. Sie alle wollen wir nacheinander betrachten.

Entzivilisation in den 1960 er Jahren
    Bei allen Unterschieden in der historischen

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