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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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großen Schirm, den ein Leviathan aufspannt. Ein Staat eignet sich nicht nur gut als Lieferant für öffentliche Güter wie Geld und Straßen, die als Infrastruktur für die wirtschaftliche Zusammenarbeit dienen, sondern er kann auch seinen Daumen auf die Waage legen, auf der die Beteiligten den relativen Nutzen von Überfällen und Handel abwägen. Angenommen, ein Ritter kann entweder zehn Sack Getreide von seinem Nachbarn durch Plünderung rauben oder die gleiche Zeit und Energie zum Verdienen des Geldes aufwenden, mit dem er fünf Sack von seinem Nachbarn kauft. Dann ist die Möglichkeit des Diebstahls relativ attraktiv. Kann der Ritter aber voraussehen, dass der Staat ihm für den Diebstahl die Zahlung von sechs Sack Getreide auferlegen wird, so dass er am Ende nur vier übrig hat, ist er mit dem ehrlichen Handel besser bedient. Die Anreize, die vom Leviathan ausgehen, machen also nicht nur den Handel attraktiver, sondern der Handel erleichtert auch dem Leviathan seine Tätigkeit. Stünde die ehrliche Alternative, das Getreide zu kaufen, nicht zur Verfügung, könnte der Staat den Ritter nur dann von der Plünderung abhalten, wenn er droht, eine Strafe von zehn Sack zu fordern – was schwieriger durchzusetzen ist als das Eintreiben einer Strafe von sechs Sack. In Wirklichkeit können die Sanktionen des Staates natürlich nicht nur in einer Strafzahlung bestehen, sondern auch in der Androhung einer körperlichen Bestrafung, aber das Prinzip ist das gleiche: Menschen sind leichter von Verbrechen abzuhalten, wenn die gesetzestreue Alternative reizvoller ist.
    Die beiden Zivilisationskräfte verstärken sich also gegenseitig, und Elias hielt sie für Teile eines einzigen Prozesses. Die Zentralisierung der Kontrolle durch den Staat und sein Gewaltmonopol, das Wachstum von Handwerkergilden und Bürokratie, die Verdrängung des Tauschhandels durch Geld, die technologische Entwicklung, der Ausbau des Handels, das wachsende Geflecht der Abhängigkeiten zwischen Personen, die weit voneinander entfernt waren – das alles fügt sich zu einem organischen Ganzen. Und damit es jemandem in diesem Ganzen gutging, musste er die Fähigkeiten des Einfühlungsvermögens und der Selbstbeherrschung kultivieren, bis sie zur zweiten Natur wurden, wie Elias es formulierte.
    Tatsächlich ist die Analogie zu etwas »Organischem« nicht an den Haaren herbeigezogen. Die Biologen John Maynard Smith und Eörs Szathmáry vertraten die Ansicht, dass eine Evolutionsdynamik, die man mit dem Prozess der Zivilisation vergleichen kann, auch in der Geschichte des Lebendigen die wichtigen Übergänge vorantrieb. Diese Übergänge waren gekennzeichnet durch die allmähliche Entstehung von Genen, Chromosomen, Bakterien, Zellen mit einem Zellkern, Organismen, sexueller Fortpflanzung und Tiergesellschaften. [178] Bei jedem dieser Übergänge neigten Gebilde, die entweder egoistisch oder kooperativ sein konnten, stärker zur Kooperation, wenn sie damit in einem größeren Ganzen aufgehen konnten. Sie spezialisieren sich, tauschen Vorteile aus und entwickeln Schutzvorrichtungen, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig zum Nachteil des Gesamtsystems ausnutzen. Einen ähnlichen Bogen schlägt der Journalist Robert Wright in seinem Buch
Nonzero
: Er spielt darin auf Positivsummenspiele an und erweitert sie auf die Geschichte der menschlichen Gesellschaften. [179] Im letzten Kapitel dieses Buchs werde ich übergreifende Theorien für den Rückgang der Gewalt näher betrachten.
     
    Die Theorie des Zivilisationsprozesses hat die strengste Prüfung für eine wissenschaftliche Hypothese bestanden: Sie machte eine überraschende Voraussage, die sich als richtig erwies. Als Elias sie 1939 formulierte, hatte er keinen Zugang zu statistischen Angaben über Morde; er arbeitete auf der Grundlage historischer Berichte und alter Etikette-Ratgeber. Als Gurr, Eisner, Cockburn und andere die Welt der Kriminologie mit ihren Diagrammen überraschten, in denen eine Abnahme der Morde zu erkennen war, hatte Elias als Einziger eine Theorie, die dies vorhergesagt hatte. Aber welchen Stellenwert hat seine Theorie heute angesichts aller anderen Erkenntnisse, die wir in den letzten Jahrzehnten über die Gewalt gewonnen haben?
    Elias selbst musste sich natürlich mit dem nicht gerade zivilisierten Verhalten in seiner deutschen Heimat während des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzen; er gab sich große Mühe, diesen »Prozeß der Entzivilisierung« im Rahmen seiner Theorie zu

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