Gewalt
erklären. [180] Dazu erörterte er die wechselvolle Geschichte der deutschen Einigung und den daraus erwachsenden Mangel an Vertrauen zu einer legitimen Zentralgewalt. Er dokumentierte die hartnäckige militaristische Ehrkultur in der Elite des Landes, den Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols mit dem Aufstieg der kommunistischen und faschistischen Milizen und die daraus erwachsende Verminderung des Mitgefühls mit der Folge, dass vermeintliche Außenseitergruppen, insbesondere die Juden, ausgegrenzt wurden. Die Behauptung, er habe seine Theorie mit diesen Analysen gerettet, wäre wahrscheinlich übertrieben, aber vielleicht hätte er das nicht versuchen sollen. Die Schrecken der Nazizeit bestanden nicht in einem Aufflammen von Fehden zwischen Kriegsherren, und die Bürger erstachen sich nicht gegenseitig am Esstisch; Ausmaß, Wesen und Ursachen der Gewalt waren vielmehr offenbar ganz andere.
Die Abnahme der unmittelbaren Morde von Angesicht zu Angesicht setzte sich sogar im Deutschland der Nazizeit fort (siehe z.B. Abbildung 3 - 19 ). [181] In Kapitel 8 werden wir sehen, wie die Aufgliederung des moralischen Empfindens und die Verteilung von Überzeugung und Durchsetzung in verschiedenen Bereichen einer Bevölkerung zu ideologisch motivierten Kriegen und Genoziden in ansonsten zivilisierten Gesellschaften führen können.
Eisner betont ein anderes Problem für die Theorie des Zivilisationsprozesses: der Rückgang der Gewalt in Europa und der Aufstieg zentralisierter Staaten vollzogen sich nicht immer im Gleichschritt. [182] Belgien und die Niederlande standen bei dem Rückgang an vorderster Front, obwohl ihnen eine starke Zentralregierung fehlte. Auch als der Trend in Schweden einsetzte, geschah dies nicht im Gefolge einer Ausweitung der staatlichen Macht. Umgekehrt hinkten die italienischen Staaten beim Rückgang der Gewalt hinterher, ihre Regierungen bauten jedoch eine gewaltige Bürokratie und Polizeikräfte auf. Auch grausame Bestrafungen, die Methode der Wahl zur Durchsetzung von Macht bei den frühneuzeitlichen Monarchen, verminderten die Gewalt anscheinend nicht in Regionen, in denen man sie mit dem größten Vergnügen vollzog.
Viele Kriminologen glauben, dass der Befriedungseffekt durch Staaten weniger von brutalen Zwangsmaßnahmen ausgeht als vielmehr von dem Vertrauen, das er bei der Bevölkerung genießt. Schließlich kann kein Staat in jeder Kneipe und jedem Bauernhaus einen Informanten postieren; wer das versucht, der ist ein totalitärer Diktator und regiert durch Angst, aber keine zivilisierte Gesellschaft, die durch Selbstkontrolle und Empathie zusammenlebt. Ein Leviathan kann eine Gesellschaft nur zivilisieren, wenn ihre Bürger den Eindruck haben, dass seine Gesetze, ihre Durchsetzung und andere soziale Übereinkünfte legitim sind, so dass sie nicht ihren schlimmsten Impulsen nachgeben, sobald der Leviathan ihnen den Rücken zukehrt. [183] Damit ist Elias’ Theorie nicht widerlegt, aber sie bekommt einen Dreh. Ein Durchsetzen der Gesetzesherrschaft mag das blutige Chaos verfeindeter Warlords beenden, aber das weitere Absenken der Gewaltrate auf die Ebene der modernen europäischen Gesellschaften beinhaltet einen viel nebulöseren Prozess, in dem bestimmte Bevölkerungsgruppen sich mit der Gesetzesherrschaft, die über sie ausgeübt wird, einverstanden erklären.
Wie Freigeister, Anarchisten und andere Leviathan-Skeptiker gern betonten, entwickeln Gemeinschaften, die man sich selbst überlässt, häufig Normen der Kooperation, mit denen sie ihre Meinungsverschiedenheiten auch ohne Gesetze, Polizei, Gerichte und andere staatliche Institutionen gewaltlos beilegen können. In
Moby Dick
erklärt Ismael, wie amerikanische Walfänger, die vom Geltungsbereich der Gesetze Tausende von Kilometern entfernt sind, sich bei Meinungsverschiedenheiten über Wale verhielten, die von einem Schiffe verwundet oder getötet, aber von einem anderen beansprucht wurden:
Gäbe es dafür nicht allgemein anerkannte Regeln, geschriebene und ungeschriebene, dann würde es unter den Walfängern fortwährend Streit und Raufereien geben.
… Geschriebene Gesetze gibt es sonst [außer in Holland] nirgends auf diesem Gebiet. Die amerikanischen Walfänger aber haben sich höchstselbst ihre Rechtsordnung geschaffen … so kurz und bündig, dass man sie auf einem Heller oder einem Harpunenhaken eingraviert um den Hals tragen könnte.
I. Der feste Fisch gebührt demjenigen, der daran festgekommen ist.
II . Der
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