Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
Vom Netzwerk:
Entwicklung der Vereinigten Staaten und Europas ist ein Trend dennoch beiden gemeinsam: Die Quoten der Gewaltverbrechen machten in den 1960 er Jahren eine Kehrtwendung. [248] Wie man in den Abbildungen 3 - 1 bis 3 - 4 erkennt, stieg die Zahl der Morde in den Staaten Europas auf eine Höhe, von der sie sich ein Jahrhundert zuvor verabschiedet hatten. Und Abbildung  3 - 10 zeigt, dass die Mordquote in den 1960 er Jahren in den Vereinigten Staaten durch die Decke ging. Nach einem über drei Jahrzehnte anhaltenden starken Abfall, der sich über die Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg erstreckte, wuchs die Mordquote in den Vereinigten Staaten auf mehr als das Zweieinhalbfache an: Hatte der Tiefstwert 1947 noch bei 4 , 0 gelegen, stieg er bis 1980 auf 10 , 2 . [249] Der Zuwachs betraf alle wichtigen Verbrechenskategorien einschließlich Vergewaltigung, Überfall, Raub und Diebstahl, und hielt (mit einem gewissen Auf und Ab) über drei Jahrzehnte an. Vor allem in den Städten wurde es gefährlich; das galt ganz besonders für New York, das geradezu zum Symbol der neuen Kriminalität wurde. Die Welle der Gewalt erfasste zwar alle Rassen und beide Geschlechter, am dramatischsten war der Zuwachs aber bei farbigen Männern: Unter ihnen schoss die Mordquote Mitte der 1980 er Jahre bis auf 72 je 100 000 und Jahr in die Höhe. [250]
    Die wachsende Flut der Gewaltverbrechen von den 1960 er über die 1980 er Jahre prägte die Kultur, die Politik und das Alltagsleben in Amerika. Witze über Straßenräuber gehörten zum Standardrepertoire der Komiker: Jede Erwähnung des Central Park, einer allgemein bekannten Todesfalle, erntete sofort einen Lacher. Die Bewohner New Yorks verbarrikadierten sich mit ganzen Batterien von Riegeln und Schlössern in ihren Wohnungen; beliebt war insbesondere das »Polizeischloss«, ein Stahlbalken, der mit einem Ende im Fußboden verankert und mit dem anderen an der Tür abgestützt war. In der Innenstadt von Boston bezeichnete man ein Viertel, das wenige Häuserblocks von meiner heutigen Wohnung entfernt liegt, als Kriegszone – so verbreitet waren dort Überfälle und Messerstechereien. Die Bewohner anderer amerikanischer Innenstädte verließen in Scharen ihre Stadtviertel und ließen ausgebrannte Stadtkerne zurück, die von Gürteln aus Vorstädten, Wohnvierteln und bewachten Wohnanlagen umgeben waren. In Büchern, Filmen und Fernsehserien diente die hartnäckige Gewalt in den Großstädten als Hintergrund, wie zum Beispiel bei
Little Murder, Taxi Driver, Die Warriors, Die Klapperschlange, Fort Apache – The Bronx, Polizeirevier Hill Street
und
Jahrmarkt der Eitelkeiten
. Frauen lernten in Selbstverteidigungskursen, sich mit selbstbewusstem Gang fortzubewegen, Schlüssel, Stifte oder hohe Absätze als Waffen zu verwenden und einen Angreifer, der von einem Freiwilligen in einem Michelinmännchen-Anzug gespielt wurde, mit Karateschlägen oder Jiu-Jitsu-Würfen außer Gefecht zu setzen. Sicherheitskräfte mit rotem Barett patrouillierten in Parks und öffentlichen Verkehrsmitteln, und 1984 wurde Bernhard Goetz, ein Ingenieur mit guten Manieren, zum Volkshelden, weil er viele junge Räuber in einem U-Bahn-Wagen erschoss. Die Angst vor Verbrechen verhalf über Jahrzehnte hinweg konservativen Politikern an die Macht, unter anderem Richard Nixon 1968 mit seinem »Law and Order«-Programm (mit dem er den Vietnamkrieg als Wahlkampfthema an den Rand drängte), George H. W. Bush 1988 mit seiner Unterstellung, der Gegenkandidat Michael Dukakis habe in Massachusetts ein Hafturlaubsprogramm befürwortet, in dessen Rahmen ein Vergewaltiger freigelassen wurde, und vielen Senatoren und Kongressabgeordneten, die versprochen hatten, »hart gegen das Verbrechen vorzugehen«. Die Reaktion der Bevölkerung war zwar übertrieben – durch Autounfälle kommen jedes Jahr weit mehr Menschen ums Leben als durch Mord, und das gilt insbesondere für all jene, die sich nicht in Bars auf Diskussionen mit jungen Männern einlassen –, aber der Eindruck, dass die Zahl der Gewaltverbrechen sich vervielfacht hatte, war kein Phantasieprodukt.
    Das Wiederaufflammen der Gewalt in den 1960 er Jahren widersprach allen Erwartungen. Es war ein Jahrzehnt mit beispiellosem Wachstum, nahezu Vollbeschäftigung und einer wirtschaftlichen Gleichberechtigung, an die wir heute mit nostalgischen Gefühlen zurückdenken. Was die Rassen anging, gab es historische Fortschritte, und staatliche Sozialprogramme

Weitere Kostenlose Bücher