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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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blühten auf, ganz zu schweigen von den medizinischen Fortschritten, durch die Opfer von Schuss- oder Stichverletzungen häufiger überlebten. Im Jahr 1962 hätte jeder Gesellschaftstheoretiker mit Freude gewettet, dass solche günstigen Bedingungen zu einer Epoche mit weiterhin niedrigen Verbrechensquoten führen würden. Und damit hätte er sein letztes Hemd verloren.
    Warum begann damals in der westlichen Welt eine drei Jahrzehnte andauernde Verbrechenswelle, von der wir uns bis heute nicht vollständig erholt haben? Das ist einer von mehreren lokalen Rückschlägen des langanhaltenden Rückgangs der Gewalt, den ich in diesem Buch untersuchen möchte. Wenn die Analyse richtig ist, dann sollten sich die historischen Veränderungen, auf die ich mich berufe, um den Rückgang zu erklären, zum Zeitpunkt des akuten Anstiegs in ihr Gegenteil umschlagen.
    Es liegt nahe, mit der Suche nach einer Antwort bei der Bevölkerungsentwicklung zu beginnen. Die friedlichen End- 1940 er und 1950 er Jahre waren das große Zeitalter der Hochzeiten. Amerikaner heirateten in einer Zahl, wie es sie nie zuvor und nie danach wieder gab; damit verschwanden die Männer von den Straßen und wurden in die Wohnviertel verpflanzt. [251] Dies hatte unter anderem einen Rückgang der Gewalt zur Folge. Die zweite Folge war jedoch der Babyboom. Der erste geburtenstarke Jahrgang war 1946 , und die damals Geborenen kamen 1961 in das Alter, in dem sie für Verbrechen anfällig waren; wer im Spitzenjahr 1954 geboren wurde, erreichte dieses Alter 1969 . Die naheliegende Schlussfolgerung lautet also: Der Verbrechensboom war einfach ein Widerhall des Babybooms. Aber leider geben die Zahlen das nicht her. Läge es nur daran, dass es mehr Teenager und über Zwanzigjährige gab, die Verbrechen in der üblichen Häufigkeit begingen, hätte die Zahl der Verbrechen von 1960 bis 1970 um 13  Prozent ansteigen müssen, nicht aber um 135  Prozent – so groß war der Anstieg tatsächlich. [252] Es lag also nicht nur daran, dass es mehr junge Männer gab; sie waren auch gewalttätiger als ihre Vorgänger.
    Viele Kriminologen sind zu dem Schluss gelangt, dass man die Verbrechenswelle der 1960 er Jahre nicht nur mit den üblichen sozioökonomischen Variablen erklären kann; ihre Triebkraft war vielmehr eine Umwälzung der kulturellen Normen. Um dem Zirkelschluss zu entkommen, dass Menschen gewalttätig sind, weil sie in einer gewalttätigen Kultur leben, muss man natürlich die äußere Ursache dieses kulturellen Wandels benennen. Der Politikwissenschaftler James Q. Wilson vertritt die Ansicht, dass die Bevölkerungsentwicklung tatsächlich ein wichtiger Auslöser war, allerdings nicht wegen der absoluten Zahl junger Menschen, sondern wegen ihres relativen Anteils. Zur Verdeutlichung macht er eine Anmerkung zu einem Zitat des Demographen Norman Ryder:
    »Jedes Jahr findet eine Invasion von Barbaren statt, die auf irgendeine Weise zivilisiert werden müssen, so dass sie zur Erfüllung der verschiedenen Funktionen beitragen, die eine Voraussetzung für das gesellschaftliche Überleben sind.« Die »Invasion« besteht aus einer neuen Generation junger Menschen, die erwachsen werden. Jede Gesellschaft bewältigt diesen ungeheuren Sozialisationsprozess mehr oder weniger erfolgreich, aber hin und wieder wird der Vorgang durch einen quantitativen Bruch in der Zahl der beteiligten Personen buchstäblich überschwemmt … Im Jahr 1950 und noch 1960 war die »Invasionsarmee« (Personen von 14 - 24  Jahren) der »Verteidigungsarmee« (Menschen von 25 - 64  Jahren) zahlenmäßig im Verhältnis 1 zu 3 unterlegen. Bis 1970 war Erstere so stark angewachsen, dass die Älteren nur noch um das Doppelte überlegen waren, ein Zustand, den es seit 1910 nicht mehr gegeben hatte. [253]
    Wie sich im weiteren Verlauf durch statistische Analysen herausstellte, ist diese Erklärung allein jedoch nicht befriedigend. Altersgruppen, die größer sind als ihre Vorgänger, begehen im Allgemeinen nicht mehr Verbrechen. [254] Ich bin allerdings überzeugt, dass Wilson auf der richtigen Spur war, als er den Verbrechensboom der 1960 er Jahre mit einer Art generationenübergreifendem Entzivilisationsprozess in Verbindung brachte. Die neue Generation bemühte sich in vielerlei Hinsicht darum, die von Elias dokumentierte, seit dem achten Jahrhundert andauernde Entwicklung zurückzudrängen.
    Die geburtenstarken Jahrgänge waren etwas Besonderes (ich weiß, wir aus den geburtenstarken Jahrgängen

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