Gewalt
dieses Kapitels plastisch gewesen sein sollte, dann nur um Sie an die Realitäten der Jahrhunderte zu erinnern, denen die Aufklärung ein Ende bereitet hat.
Natürlich findet historischer Wandel nie mit einem Donnerschlag statt, und auch humanistische Strömungen waren sowohl vor als auch nach der Aufklärung über Jahrhunderte weg im Schwange und ebenfalls in anderen Gegenden der Welt als nur im Westen. [332] Wie die Historikerin Lynn Hunt in ihrem Werk
Inventing Human Rights
feststellt, wurden die Menschenrechte zu zwei Zeitpunkten in der Geschichte auffällig gestärkt. Der erste ist Ende des 18 . Jahrhunderts die amerikanische Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1776 und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 . Der zweite liegt in der Mitte des 20 . Jahrhunderts mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 , der eine ganze Welle von Rechte-Revolutionen in den weiteren Jahrzehnten folgte (Kapitel 7 ).
Wie wir noch genauer erfahren werden, waren die Erklärungen mehr als gefühlsduseliges Wortgeklingel; die Humanitäre Revolution setzte die Abschaffung vieler barbarischer Praktiken in Gang, die während eines großen Teils der Menschheitsgeschichte selbstverständliche Lebensaspekte gewesen waren. Der Brauch jedoch, der den Fortschritt der humanitären Gefühle am eindringlichsten deutlich macht, wurde schon einige Zeit früher ausradiert, und sein Verschwinden ist ein guter Ausgangspunkt, wenn man den Rückgang der institutionalisierten Gewalt verstehen will.
Der Aufstieg des Mitgefühls und die Achtung für das menschliche Leben
Die Fähigkeit der Menschen zu Mitgefühl ist kein Reflex, der automatisch durch die Anwesenheit von anderen Lebewesen ausgelöst wird. Zwar reagieren die Menschen, wie wir in Kapitel 9 sehen werden, in allen Kulturkreisen mitfühlend auf Verwandte, Freunde und Babys, sie halten sich aber zurück, wenn es um die größeren Kreise von Nachbarn, Fremden, Ausländern und anderen empfindungsfähigen Lebewesen geht. Der Philosoph Peter Singer vertritt in seinem Buch
The Expanding Circle
die Ansicht, im Lauf der Geschichte habe sich das Spektrum der Lebewesen erweitert, deren Interessen die Menschen ebenso hoch einschätzen wie ihre eigenen. [458] Dabei stellt sich die interessante Frage, wodurch dieser Kreis des Mitgefühls größer wurde. Als Antwort kommt die zunehmende Alphabetisierung durchaus in Frage.
Lesen ist eine Methode zum Einnehmen von Perspektiven. Wenn wir vor unserem geistigen Ohr die Gedanken eines anderen hören, beobachten wir die Welt aus der Sicht dieser Person. Wir nehmen nicht nur Anblicke und Geräusche auf, die wir nicht aus erster Hand erleben könnten, sondern wir versetzen uns auch in den Geist eines anderen hinein und teilen vorübergehend dessen Einstellungen und Reaktionen. Wie wir noch sehen werden, ist »Empathie« im Sinn der Einnahme des Standpunktes von jemand anderem nicht dasselbe wie »Empathie« in dem Sinn von Mitgefühl für diese Person, aber das eine kann auf natürlichem Weg zum anderen führen. Die Perspektive von jemand anderem zu übernehmen erinnert einen daran, dass ein anderer Mensch einen in der ersten Person und in der Gegenwart ablaufenden Bewusstseinsstrom besitzt, der unserem eigenen stark ähnelt, aber nicht genau gleicht. Dann ist es kein großer Schritt mehr zu der Annahme, dass die Gewohnheit, die Worte anderer Menschen zu lesen, beim Leser auch die Gewohnheit weckt, sich in den Geist anderer Menschen, in ihre Freuden und Leiden hineinzuversetzen. Selbst wenn man nur einen Augenblick lang den Standpunkt eines Menschen einnimmt, der in einem Pranger schwarz wird, verzweifelt versucht, brennende Reisigbündel von sich wegzuschieben, oder der unter dem zweihundertsten Schlag der Peitsche zusammenzuckt, denkt man vielleicht zweimal darüber nach, ob man irgendjemandem solche Grausamkeiten zufügen sollte.
Wenn man den Blickwinkel anderer Menschen einnimmt, wandeln sich Überzeugungen manchmal auch in anderer Hinsicht. Der Kontakt mit Welten, die man nur durch die Augen eines Ausländers, Entdeckers oder Historikers betrachten kann, führt unter Umständen dazu, dass eine unhinterfragte Norm – »so macht man das eben« – zu einer genau beschriebenen Beobachtung wird – »so macht unser Volk das zufällig zur Zeit«. Eine solche Relativierung ist dann möglicherweise der erste Schritt in Richtung der Frage, ob man es auch anders machen könnte. Und die Erkenntnis, dass die Letzten
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