Gewalt
Waffenverstecke. Auch von anderen Absurditäten ließ man sich nicht anfechten. Wenn ein Angeklagter im Feuer verbrannte und nicht durch ein Wunder verschont wurde, galt das als Beweis, dass er schuldig war. Eine vermeintliche Hexe wurde gefesselt und in einen See geworfen: Schwamm sie oben, war bewiesen, dass sie eine Hexe war, und sie wurde gehängt; wenn sie unterging und ertrank, war ihre Unschuld erwiesen. [329]
Folter und Hinrichtung liefen nicht versteckt in den Kerkern ab. Sie waren vielmehr beliebte Formen der Volksbelustigung und lockten Massen johlender Zuschauer an, die das Opfer beim Zappeln und Schreien beobachteten. Aufs Rad geflochtene oder an Galgen hängende Körper, aber auch Käfige mit verwesenden Leichen, in denen Menschen verhungert waren und den Vögeln als Nahrung dienten, waren ein vertrauter Teil der Landschaft. (Manche dieser Käfige hängen in Europa noch heute an öffentlichen Gebäuden, beispielsweise an der Lambertikirche in Münster.) Häufig war Folter ein Sport zum Mitmachen. Ein in den Schandstock geschlossenes Opfer wurde gekitzelt, geschlagen, verstümmelt, mit Steinen beworfen und mit Schlamm oder Exkrementen beschmiert, was manchmal zum Erstickungstod führte.
Systematische Grausamkeit gab es nicht nur in Europa. Hunderte von Foltermethoden, die auf Hunderttausende von Opfern angewandt wurden, sind auch aus anderen Kulturkreisen dokumentiert, so von Assyrern, Persern, Seleukiden, Römern, Chinesen, Hindus, Polynesiern, Azteken sowie vielen afrikanischen Königreichen und den Stämmen der amerikanischen Ureinwohner. Über brutale Tötungen und Bestrafungen wurde auch bei Israeliten, Griechen, Arabern und osmanischen Türken berichtet. Wie wir am Ende von Kapitel 2 gesehen haben, waren die ersten komplexen Zivilisationen
alle
absolutistische Theokratien, die Verbrechen ohne Opfer mit Folter und Verstümmelung bestraften. [330]
Dieses Kapitel handelt von der bemerkenswerten Veränderung in der Geschichte, die uns auf diese Praktiken mit Schaudern reagieren lässt. In der modernen westlichen Welt und in einem großen Teil der übrigen Länder sind Todesstrafe und körperliche Züchtigungen im Grunde abgeschafft, die Möglichkeiten der Regierungen, Gewalt gegen ihre Bürger anzuwenden, wurden ernsthaft eingeschränkt, Sklaverei abgeschafft, und die Menschen haben ihre Lust auf Grausamkeit verloren. Diese Entwicklung spielte sich in einem kurzen historischen Zeitraum ab: Sie begann mit dem Zeitalter der Vernunft im 17 . Jahrhundert und erreichte in der zweiten Hälfte des 18 . Jahrhunderts mit der Aufklärung ihren Höhepunkt.
Zum Teil wurde der Fortschritt – und wenn es kein Fortschritt ist, weiß ich nicht, wie man es nennen soll – von Ideen vorangetrieben: durch die ausdrücklich vertretene Ansicht, die institutionalisierte Gewalt müsse begrenzt oder abgeschafft werden. Eine zweite große Triebkraft war aber ein Wandel der Empfindlichkeiten: Plötzlich hatten die Menschen
Mitleid
mit ihren Mitmenschen und waren ihrem Leiden gegenüber nicht mehr gleichgültig. Aus diesen Kräften erwuchs eine neue Ideologie, die das Leben und das Glück in den Mittelpunkt der Wertvorstellungen stellte und Vernunft und Beweis zu Motiven für die Gestaltung der Institutionen machte. Diese neue Ideologie kann man als Humanismus oder Menschenrechte bezeichnen, und ihre plötzliche Wirkung auf das abendländische Leben in der zweiten Hälfte des 18 . Jahrhunderts könnte man die Humanitäre Revolution nennen.
Heute wird die Aufklärung oft mit einem höhnischen Lächeln erwähnt. »Kritische Theoretiker« der Linken weisen ihr die Schuld für die Katastrophen des 20 . Jahrhunderts zu, Konservative im Vatikan und rechte amerikanische Intellektuelle sehnen sich danach, den toleranten Säkularismus der Aufklärung durch die angebliche moralische Klarheit des mittelalterlichen Katholizismus zu ersetzen. [331] Selbst viele gemäßigte nichtchristliche Schriftsteller verunglimpfen die Aufklärung als Rache der Langweiler, als naiven Glauben, dass die Menschen eine Rasse spitzohriger rationaler Akteure sind. Dieser ungeheure Erinnerungsverlust und diese Undankbarkeit werden durch die natürliche Schönfärberei der Geschichte ermöglicht, die wir in Kapitel 1 kennengelernt haben, in der die Realität hinter den Grausamkeiten des vergangenen Jahres in das Erinnerungsloch fällt und man sich an die Grausamkeiten nur mittels nichtssagender Redewendungen und Symbole erinnert. Wenn der Anfang
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