Gewalt
Zeitalter der Kernwaffen besagen unsere schrecklichsten Phantasien und die mathematischen Eigenschaften der Potenzgesetz-Verteilungen das Gleiche: Astronomisch unwahrscheinlich ist es nicht.
Bisher habe ich die Ursachen von Kriegen als platonische Abstraktionen erörtert, als würden Gleichungen die Armeen in den Kampf schicken. In Wirklichkeit müssen wir aber verstehen,
warum
Kriege sich nach dem Potenzgesetz verteilen. Oder anders gefragt: Welche Kombination aus Psychologie, Soziologie und Technologie könnte hinter einer solchen Gesetzmäßigkeit stecken? Eine sichere Antwort können wir derzeit nicht geben. Es gibt zu viele verschiedene Mechanismen, die Potenzgesetz-Verteilungen entstehen lassen, und die empirischen Daten über Kriege sind nicht so genau, dass wir daraus ablesen könnten, welcher davon am Werk ist.
Dennoch verschafft uns die Tatsache, dass Kriege maßstabsfrei sind, eine Erkenntnis über ihre Funktionsweise. [545] Intuitiv besagt sie:
Größe spielt keine Rolle.
Immer bestimmt die gleiche psychologische oder spieltheoretische Dynamik darüber, ob Konfliktparteien sich gegenseitig bedrohen, sich zurückziehen, bluffen, sich angreifen, den Streit eskalieren lassen, weiterkämpfen oder sich unterwerfen; ob es sich bei den Parteien um Straßenbanden, Milizen oder die Armeen von Großmächten handelt, ist dabei ohne Bedeutung. Das liegt vermutlich daran, dass Menschen soziale Tiere sind, die sich zu Koalitionen zusammenschließen, welche ihrerseits größere Koalitionen bilden, und so weiter. Dennoch können solche großen oder kleinen Koalitionen von einer kleinen Gruppe oder einem Einzelnen in den Krieg geschickt werden, ganz gleich, ob es sich dabei um einen Bandenführer, einen Diktator, einen Kriegsherrn, einen König oder einen Kaiser handelt.
Wie kann die intuitive Erkenntnis, dass Größe keine Rolle spielt, in Modelle für bewaffnete Konflikte einfließen, die tatsächlich zu einer Potenzgesetz-Verteilung führen? [546] Am einfachsten geht man davon aus, dass die Größe der Koalitionen selbst einer Potenzgesetz-Verteilung unterliegt, dass sie sich gegenseitig im Verhältnis zu ihrer zahlenmäßigen Stärke bekämpfen und dass auch ihre Verluste proportional zu ihrer Größe sind. Wir wissen, dass manche Ansammlungen von Menschen – nämlich Kommunen – eine Größenverteilung nach dem Potenzgesetz aufweisen, und wir kennen auch den Grund dafür. Zu den häufigsten Wegen, auf denen Potenzgesetz-Verteilungen entstehen, gehört die sogenannte bevorzugte Bindung (
preferential attachment
). Die bevorzugte Bindung wird auch als angehäufter Vorteil, reich wird reicher oder Matthäus-Effekt bezeichnet, Letzteres nach einer Passage in Matthäus 25 , 29 , die Billie Holiday kurz und bündig so zusammenfasste: »Wer hat, der kriegt, wer nicht hat, verliert.« Beliebte Websites locken immer mehr Besucher an, so dass sie noch beliebter werden; gut verkäufliche Bücher kommen auf die Bestsellerliste, die noch mehr Menschen veranlasst, sie zu kaufen; und Städte mit vielen Einwohnern bieten mehr berufliche und kulturelle Möglichkeiten, so dass die Menschen dorthin strömen (wer will schon auf dem Bauernhof bleiben, wenn er Paris gesehen hat?).
Richardson zog diese einfache Erklärung in Betracht, stellte aber fest, dass die Zahlen nicht zusammenpassen. [547] Wenn tödliche Konflikte nach dem gleichen Prinzip wie die Größe von Städten verteilt wären, müsste auf jede zehnfache Verringerung ihrer Größe eine Zunahme ihrer Zahl auf das Zehnfache kommen. In Wirklichkeit beobachtet man aber noch nicht einmal eine Vervierfachung. Außerdem wurden Kriege in den letzten Jahrhunderten nicht von Städten, sondern von Staaten geführt, und die Größenverteilung von Staaten unterliegt keiner Potenzgesetz-Verteilung, sondern einer logarithmischen Normalverteilung, das heißt einer verformten Glockenkurve.
Vermutungen über einen anderen Mechanismus erwuchsen aus der Erforschung komplexer Systeme; dabei sucht man nach Gesetzmäßigkeiten für die Entstehung von Strukturen, die nach ähnlichen Prinzipien organisiert sind, obwohl sie aus unterschiedlichen Materialien bestehen. Viele Komplexitätsforscher interessieren sich für Systeme, die eine als selbstorganisierte Kritikalität (
self-organized criticality
, SOC ) bezeichnete Gesetzmäßigkeit erkennen lassen. Unter »Kritikalität« kann man sich den Tropfen vorstellen, der ein Fass zum Überlaufen bringt: Ein kleiner Input verursacht plötzlich
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