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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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Zermürbungsspiels, in dem auch der Verlierer zahlen muss, bieten die Parteien immer weiter bis zu einem Punkt, an dem der Aufwand größer ist als der Wert der Ware. Gewinnen kann dann niemand mehr, aber jede Seite hofft, nicht ganz so viel zu verlieren. In der Spieltheorie spricht man von einer »ruinösen Situation«. Sie wird auch »Pyrrhussieg« genannt; die militärische Analogie liegt auf der Hand.
    In einem Zermürbungskriegsspiel kann sich auch eine Strategie entwickeln, in der jeder Spieler einen
zufälligen
Zeitraum abwartet, wobei die durchschnittliche Wartezeit dem entspricht, was ihm die Ressource wert ist. Auf lange Sicht bekommt dabei jeder Spieler für seinen Aufwand einen soliden Gegenwert, aber da die Wartezeiten vom Zufall bestimmt werden, kann keiner voraussagen, nach welcher Zeit der andere aufgeben wird, und ihn nicht zuverlässig überdauern. Die Beteiligten verhalten sich also nach folgender Regel: Sie werfen in jedem Augenblick zwei Würfel, und wenn beispielsweise zweimal die 4 fällt, geben sie klein bei; wenn nicht, wird erneut gewürfelt. Das entspricht natürlich einem Poisson-Prozess, und der führt, wie wir mittlerweile wissen, zu einer exponentiellen Verteilung der Wartezeiten (da eine immer längere Wartezeit von einer immer unwahrscheinlicheren Reihe von Würfelzahlen abhängt). Der Wettbewerb endet, wenn eine Seite als Erste das Handtuch wirft; demnach unterliegt auch die Dauer des Wettbewerbs einer Exponentialverteilung. Kehren wir nun zu unserem Modell zurück, in dem es sich bei dem Aufwand nicht um Sekunden, sondern um Soldaten handelt: Wenn tatsächliche Zermürbungskriege ablaufen würden wie das Modell des »Zermürbungskrieges« in der Spieltheorie und wenn ansonsten alle Faktoren gleich blieben, unterläge auch die Größenverteilung solcher Kriege einer Exponentialfunktion.
    In Wirklichkeit unterliegen Kriege natürlich der Potenzgesetz-Verteilung, die einen dickeren Schwanz hat als die Exponentialfunktion (was in unserem Fall einer größeren Zahl schwerer Kriege entspricht). Die Exponentialverteilung kann aber zu einer Potenzgesetz-Verteilung werden, wenn die Werte durch einen zweiten exponentiellen Prozess beeinflusst werden, der sie in die entgegengesetzte Richtung verschiebt. Zermürbungsspiele haben einen Dreh, der dieses Kunststück bewerkstelligen könnte. Wenn eine Seite in einem Zermürbungsspiel ihre Absicht verrät, im nächsten Augenblick klein beizugeben – beispielsweise durch eine Zuckung, durch Erbleichen oder ein anderes Zeichen von Nervosität –, kann der Gegner aus diesem Anzeichen Kapital schlagen und einfach ein wenig länger warten; dann würde er den Lohn in jedem Fall einstreichen. Oder, wie Richard Dawkins es formulierte: Bei einer Spezies, die sich häufig an Zermürbungskriegen beteiligt, rechnet man mit der Evolution eines Pokerface.
    Nun könnte man vermuten, dass die Lebewesen auch Kapital aus den umgekehrten Signalen schlagen, aus Anzeichen, dass nicht das Einknicken bevorsteht, sondern dass die Entschlossenheit nach wie vor vorhanden ist. Wenn eine Partei eine trotzige Haltung einnimmt und damit sagt: »Ich behaupte meine Stellung; ich gebe nicht klein bei«, wäre es für den Gegner vernünftig, schon jetzt aufzugeben und damit den Verlust zu begrenzen, statt beide in den gegenseitigen Ruin zu treiben. Aber es hat seinen Grund, dass wir hier von »Imponiergehabe« sprechen. Jeder Feigling kann die Arme verschränken und finster blicken, aber die andere Seite kann darin auch einfach einen Bluff erkennen. Nur wenn das Signal
aufwendig
ist – wenn die trotzige Partei die Hände über eine Kerze hält oder sich mit einem Messer in den Arm schneidet –, kann sie damit zeigen, dass sie es ernst meint. (Einen sich selbst auferlegten Preis zu bezahlen lohnt sich natürlich nur dann, wenn der Lohn, um den es eigentlich geht, für den betreffenden Spieler besonders wertvoll ist oder wenn er Grund zu der Annahme hat, dass er bei einer weiteren Eskalation des Wettbewerbs die Oberhand über seinen Gegner behalten kann.)
    In einem Zermürbungskrieg kann man sich einen Militärführer vorstellen, dessen Bereitschaft, einen Verlust in Kauf zu nehmen, sich im Laufe der Zeit
verändert
: Sie wächst, je länger der Konflikt andauert, und seine Entschlossenheit nimmt zu. Er handelt also nach dem Motto: »Wir kämpfen weiter, damit unsere Jungs nicht umsonst gestorben sind.« Diese Geisteshaltung, die auch Verlustaversion, Sunk-Cost-Dilemma oder

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