Gewalt
»schlechtem Geld gutes hinterherwerfen« genannt wird, ist offenkundig irrational, in den Entscheidungsprozessen der Menschen aber erschreckend weit verbreitet. [550] Menschen halten an einer schlechten Ehe fest, weil sie bereits viele Jahre hineingesteckt haben, oder sie bleiben in einem schlechten Film sitzen, weil das Geld für die Eintrittskarte bereits weg ist, oder sie bemühen sich, einen Verlust im Glücksspiel auszugleichen, indem sie den Einsatz das nächste Mal verdoppeln, oder sie investieren Geld in Schrottpapiere, weil sie bereits so viel dafür bezahlt haben. Psychologen verstehen nicht vollständig, warum Menschen eine solche Verlustaversion haben; einer verbreiteten Erklärung zufolge signalisiert sie eine öffentliche Verpflichtung. Die betreffende Person verkündet: »Wenn ich eine Entscheidung treffe, bin ich nicht so schwach, so dumm oder so unentschlossen, dass man sie mir ohne weiteres wieder ausreden kann.« In einem Entschlossenheitswettbewerb wie dem Zermürbungsspiel kann die Verlustaversion als kostspieliges und deshalb glaubwürdiges Signal dienen, dass der Teilnehmer nicht im Begriff steht, klein beizugeben; damit hat er die Strategie des Gegners, ihn zu überdauern, für eine weitere Spielrunde vereitelt.
Wie ich bereits erwähnt habe, lassen manche Anhaltspunkte aus Richardsons Daten darauf schließen, dass Konfliktparteien länger kämpfen, wenn der Krieg tödlicher ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass Kriege im folgenden Jahr enden, ist für kleine Konflikte höher als für große. [551] Auch die Größenangaben in den Daten von Correlates of War bieten Anhaltspunkte für ein eskalierendes Engagement: Kriege, die länger dauern, sind im Hinblick auf die Opferzahlen nicht nur kostspieliger; sie sind auch kostspieliger, als man es allein aufgrund ihrer Dauer erwarten sollte. [552] Wenn wir von der Statistik der Kriege zu den tatsächlichen Kriegen springen, erkennen wir, wie der Mechanismus funktioniert. Die blutigsten Kriege der Geschichte verdankten ihre zerstörerische Kraft in vielen Fällen Führungsgestalten auf einer oder beiden Seiten, die eine vollkommen irrationale Verlustaversionsstrategie verfolgten. Hitler kämpfte in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges in wütendem Wahn weit über den Punkt hinaus, an dem die Niederlage bereits sicher war. Japan tat das Gleiche. Lyndon Johnsons wiederholte Verschärfung des Vietnamkrieges gab die Anregung zu einem Protestsong, in dem das Verständnis der Menschen für diesen destruktiven Krieg prägnant zusammengefasst wurde: »We were waist-deep in the Big Muddy; The big fool said to push on.« [»Wir steckten hüfttief im großen Schlamm, der große Narr sagte, wir sollten beschleunigen.«]
Der Systembiologe Jean-Baptiste Michel machte mich darauf aufmerksam, wie das eskalierende Engagement in einem Zermürbungskrieg eine Potenzgesetz-Verteilung erzeugen kann. Wir müssen nur davon ausgehen, dass die Führungspersonen die Eskalation in einem konstanten Verhältnis zum bisherigen Engagement vorantreiben – an jeder Angriffswelle sind beispielsweise zehn Prozent der Anzahl an Soldaten beteiligt, die bisher gekämpft haben. Ein solcher konstant proportionaler Anstieg stünde im Einklang mit dem sogenannten Weber-Gesetz, einem altbekannten psychologischen Prinzip: Damit die Intensitätszunahme eines Reizes bemerkt wird, muss sie einen konstanten Anteil der bereits vorhandenen Intensität besitzen (wenn ein Raum von zehn Glühbirnen erleuchtet wird, bemerkt man die Helligkeitszunahme beim Einschalten einer elften, ist der Raum aber von 100 Birnen erleuchtet, fällt die 101 . nicht mehr auf; dann muss man weitere zehn Birnen einschalten, damit die Zunahme auffällt). Nach dem gleichen Prinzip, so Richardsons Beobachtung, wird auch der Verlust von Menschenleben wahrgenommen: »Man betrachte zum Beispiel das über viele Tage anhaltende Mitgefühl der Zeitungen für den Verlust des britischen U-Bootes
Thetis
in Friedenszeiten mit der knappen Bekanntgabe ähnlicher Verluste während des Krieges. In diesem Gegensatz kann man ein Beispiel für die Weber-Fechner-Doktrin sehen: Eine Zunahme wird im Verhältnis zur bereits vorhandenen Menge beurteilt.« [553] Der Psychologe Paul Slovic gab kürzlich einen Überblick über mehrere Experimente, die ebenfalls für diese Beobachtung sprechen. [554] Das fälschlich Stalin zugeschriebene Zitat »ein Todesfall ist eine Tragödie, eine Million Todesfälle sind eine Statistik« nennt zwar die
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