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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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einen großen Output. »Selbstorganisierte« Kritikalität wäre demnach ein Fass, dessen Größe gerade um so viel zunimmt, dass unterschiedlich große Tropfen es wiederum zum Überlaufen bringen können. Ein gutes Beispiel ist ein kleines Rinnsal aus Sand, das langsam auf einen Sandhaufen fließt und hin und wieder einen Erdrutsch unterschiedlicher Größe auslöst; die Größe der Erdrutsche ist dabei nach einem Potenzgesetz verteilt. Eine Sandlawine kommt zum Stehen, wenn die Steigung gerade so flach ist, dass das Ganze stabil bleibt, aber der hinzukommende Sand lässt die Böschung steiler werden, so dass sich eine neue Lawine löst. Andere Beispiele sind Erdbeben und Waldbrände. Ein Brand vernichtet einen Wald, und anschließend können die Bäume nach dem Zufallsprinzip neu heranwachsen, bis sie Gruppen bilden, die zusammenwachsen und einen neuen Brand speisen. Mehrere Politikwissenschaftler haben Computersimulationen entwickelt, in denen Kriege analog zu Waldbränden nachvollzogen werden. [548] In solchen Modellen erobern Staaten ihre Nachbarn und schaffen größere Staaten, ganz ähnlich wie Baumgruppen, die aufeinander zu wachsen und größere Gruppen entstehen lassen. Genau wie eine weggeworfene Zigarette, die in einem solchen Wald entweder einen kleinen Buschbrand oder eine Feuersbrunst auslösen kann, kann auch ein destabilisierendes Ereignis in der Simulation der Staaten entweder ein kleines Scharmützel oder einen Weltkrieg verursachen.
    Wie zerstörerisch ein Krieg ist, hängt in diesen Simulationen vor allem von der flächenmäßigen Ausdehnung der Kriegsparteien und ihrer Verbündeten ab. In Wirklichkeit jedoch ergeben sich Unterschiede in der Zerstörungswirkung auch aus der Entschlossenheit der einzelnen Parteien, den Krieg weiterzuführen, wobei jeder hofft, dass der andere zuerst zusammenbricht. Einige der blutigsten Konflikte in der modernen Geschichte, darunter der amerikanische Bürgerkrieg, der Erste Weltkrieg, der Vietnamkrieg und der Krieg zwischen Iran und Irak, waren Zermürbungskriege: Alle Seiten warfen dem Krieg immer mehr Menschen und Material in den Rachen, weil sie hofften, der anderen Seite werde zuerst die Luft ausgehen.
    Der Biologe John Maynard Smith, der als Erster die Spieltheorie auf die biologische Evolution anwandte, konstruierte Modelle einer solchen Pattsituation als Zermürbungskriegsspiel. [549] Zwei Parteien konkurrieren um eine wertvolle Ressource, und jeder versucht, den anderen zu überdauern, wobei während der Wartezeit stetig neue Kosten anfallen. In dem ursprünglichen Szenario kann es sich dabei um gepanzerte Tiere handeln, die um ein Revier streiten: Sie starren einander an, bis einer von ihnen den Rückzug antritt; die Kosten bestehen in Zeit und Energie, die während des Patts verschwendet werden und sonst dazu benutzt werden könnten, Nahrung oder Paarungspartner zu suchen. Ein solches Zermürbungsspiel entspricht mathematisch einer Auktion, in der das höchste Gebot gewinnt, wobei aber beide Seiten das niedrige Gebot des Verlierers bezahlen müssen. Und natürlich kann man hier die Analogie zu einem Krieg herstellen, in dem sich der Aufwand als Zahl der getöteten Soldaten berechnet.
    Der Zermürbungskrieg ist in der Spieltheorie eines jener paradoxen Szenarien (wie das Gefangenendilemma, die Tragödie der Gemeingüter und die Dollarauktion), bei denen eine Reihe rational handelnder Akteure, die ihre Interessen wahrnehmen, am Ende schlechter dastehen, als wenn sie sich zusammengesetzt hätten und zu einer gemeinsamen, bindenden Übereinkunft gelangt wären. Man kann sich das so vorstellen, dass alle Seiten in einem Zermürbungsspiel das tun sollten, was den Bietern bei eBay geraten wird: Entscheide, wie viel dir die umstrittene Ressource wert ist, und biete nur bis zu dieser Grenze. Dabei stellt sich nur das Problem, dass die Strategie von einem anderen Bieter zunichtegemacht werden kann. Dieser muss nur einen Euro mehr bieten (oder ein wenig länger warten oder einen weiteren kleinen Soldatentrupp einsetzen), und schon gewinnt er. Er bekommt die Ware für den Betrag, den sie nach unserer Einschätzung wert ist, wir selbst aber müssen den gleichen Betrag abschreiben, ohne etwas zurückzubekommen. So etwas zuzulassen wäre verrückt, also ist man versucht, sich der Strategie »immer einen Euro mehr bieten« zu bedienen, der andere unterliegt jedoch der gleichen Versuchung. Wohin das führt, erkennt man sofort. Durch die perverse Logik eines

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