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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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manchmal in der Mitropa gegenüber der Bahnsteige, dort ist jetzt ein Zeitungsladen, der riesige Glasleuchter hängt noch an der Decke. Das war ein großer Raum mit vielen Tischen, Stufen führten zum Tresen. Ein goldenes Licht ist in meinen Erinnerungen, aber vielleicht sind das die unzähligen großen Biere auf den Tischen. Sind wir nicht von dort aufgebrochen ins sächsische Bergland, das ich suche? In der Bar ist es düster, die Frau redet, wahrscheinlich mit sich selbst, blickt dabei rüber zu dem Friseurgeschäft, nickt der anderen Frau zu, die Haare des Mannes werden kürzer, wie schnell das geht. Ich setze mich auf einen der Barhocker. »Ein Bier, bitte.« Ich kenne die Bedienung, schwer zu sagen, wie alt sie ist, es ist immer dieselbe, auch wenn ich hier nicht oft trinke. Bis um elf hat die Bar geöffnet, meistens gehe ich ins
Brick’s
, wenn ich abends oder nachts von meinen Reisen komme. Sie stellt das volle Glas auf einen Pappuntersetzer auf den Tresen; drei Frauen: die Alte, die Friseurin gegenüber und die Bedienung. Ich
nehme das Glas, es ist kalt und feucht, das Bier schimmert in diesem seltsam goldenen Licht der Mitropa, die vielen Lämpchen des riesigen Kronleuchters. »Prost, Clemens.« Ich drehe mich um, und da sitzt er, im Schatten, an einem kleinen Tisch in der Ecke, direkt neben den Klos.
    War der Tisch nicht leer gewesen? Aber das ist es nicht, was mir Angst macht, wir sind auf dem Hauptbahnhof, die Menschen kommen und gehen, fahren und verschwinden und warten. Und ich weiß, dass ich die Berge heute nicht mehr in der Abendsonne sehen werde, Juli 2009 . Ich stehe auf und nehme mein Bier. Die Barfrau blickt mich an, und ich sage: »Bringen Sie uns noch zwei Braune, bitte.«
    Ich setze mich zu ihm. Seine Arme sind so unglaublich dünn, dass sie kaum das Bierglas halten können, aus dem er in kleinen Schlucken trinkt. Er nickt mir zu, und ich nicke zurück, aber das ist nur das stetige Zittern seines Kopfes, wie ein magerer Apfel sieht der aus auf einem dürren, langen Stiel. »Hab ich dir mal von dieser Frau erzählt, mit der ich nachts in den Zügen gearbeitet habe? Wie die sich eingepisst hat, weil sie sich nicht getraut hat, die saubergemachten Klos zu benutzen, ein dunkler Fleck auf ihrer blauen Latzhose. Das habe ich nie verstanden, wieso die nicht einfach auf eins der Klos gegangen ist ...«
    »Angst«, sagt er. In seinem Bierglas schwimmen Fliegen, und er trinkt. »Du hast da ...« Ich tippe an meine Lippe, und er wischt sich eine von diesen schillernden Fliegen weg, sie krabbelt über seine dürre Hand, und er streift sie an der Tischkante ab. Ich sehe eine andere Fliege in dem strohigen Haarbüschel und den Hautschuppen auf seinem Kopf. Die schimmert grün. Ich will da nicht länger hinsehen, sie reibt die Vorderbeinchen aneinander, ein kaum
hörbares Zirpen, aber das kann sonst wo herkommen. »Bist du auf Reisen«, fragt er, »wieder mal?«
    »Kannst du dich an dieses Haus erinnern«, sage ich, »irgendwo an der Strecke nach Markkleeberg, Altenburg? Ein Garten davor, Fenster mit Fensterläden und die Dachziegel ganz schwarz verwittert.«
    »Haben wir da Fußball gespielt?«
    »Ich weiß es nicht«, sage ich, »ich kann mich einfach nicht erinnern.«
    »Ich hab dich schon die ganze Zeit gerufen«, sagt er.
    »Ich weiß.«
    »Und du bist nicht einmal gekommen.«
    »Doch«, sage ich, »einmal war ich da.« Ich höre Kinderstimmen hinter mir und drehe mich um. Zwei kleine Mädchen, höchstens zehn Jahre alt, sitzen an dem Tisch, an dem die alte Frau vorhin noch gesessen hat, sie stecken die Köpfe zusammen und lachen, nein, nur die eine lacht, das andere Mädchen weint, hat schon ein ganz rotes Gesicht davon. Ich kenne das Gesicht, hab ich es nicht in einer Zeitung gesehen?, nicht nur einmal, aber ich will jetzt nicht drüber nachdenken, zu viel stimmt nicht mehr. Das lachende Mädchen streicht ihr durch die Haare, die Barfrau stellt zwei rote Limos vor sie hin, dann kommt sie mit dem Tablett und zwei Gläsern Braunen zu uns. »Der geht aufs Haus, BB «, sagt sie. Ich bin froh, dass sie seinen Namen sagt, BB wie Big Boy, denn dann kann ich noch nicht ganz verrückt sein. Wir heben unsere Gläser. »Einmal«, sage ich, »einmal war ich bei dir!«, und er trinkt. Ich tippe mit zwei Fingern in den Schnaps und reibe ihn unter meine Nasenlöcher, weil ich es sonst nicht mehr aushalte.
    Ich bin aus der S-Bahn gestiegen, das war, bevor ich anfing, die Berge zu suchen, und ein, zwei Kilometer in

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