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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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zehn Jahre im Knast gesessen und sich das Recht auf die Stimmen aus seinen Büchern und Recherchen im jahrelangen Wahnsinn seiner Arbeit redlich verdient), was ist wirklich? Ich weiß es nicht mehr.
    Ein U-förmiges Gebäude mit einem großen Garten im Inneren des U. Berge sollten drum herum sein, mit weiten Hängen, aber dort sind Hochhäuser, Neubauten, die Büchertürme der Deutschen Bücherei, die großen, leeren Hallen des alten Messegeländes, die Tierklinik der Universität, eine orthodoxe Kirche mit einem goldenen Zwiebelturm ... Bin ich in die Kirche gegangen? Habe ich vielleicht geglaubt, dass ihm das helfen könnte? Ein Bild vor mir: Eine Frau steht im Inneren einer Kirche, die Wände sind voller Einschusslöcher, sie schreit die steinerne Maria an, beschimpft sie, »du Hure!«, bittet um Verzeihung, beschimpft sie wieder und klagt, es ist Krieg ... »Wo warst du, Maria?«
Aber ich bin nicht katholisch, und wir Lutheraner betreiben keinen Marienkult, der an sich schon Blasphemie ist, und von meinem Glauben sind nur noch Fragmente übrig wie von der zerschossenen Kirche, und auch dieses Bild, die Frau in der Kirche, ist ein geschriebenes, zumindest habe ich es gelesen, die kroatische Schriftstellerin Ivana Sajko hat es erschaffen, ein großes Bild, voll Zorn und Pathos, und ich will auch klagen und anklagen, voll Zorn und Pathos, obwohl kein Krieg seinen Körper verstümmelt hat (zweiunddreißig, du verdammtes Weibsstück, er ist erst zweiunddreißig!) ... kommt doch bitte zu mir, in diese kleine Bar auf dem Leipziger Bahnhof, und bringt eure Bilder mit, Kempowski, Lem, Sajko, es spielt dort keine Rolle, ob ihr noch lebt (Frau Sajko lebt noch, ich will kein Unglück bringen. Sie hat irgendwo in den Bergen um Zagreb ein Haus, in dem wohnt sie mit ihrem Mann, der ist viele Jahre zur See gefahren. Wenn jemand, so um 2050 , das hier liest, ist sie höchstwahrscheinlich schon tot und in irgendwelchen Gravitationsstrudeln oder sitzt mit mir und ihrem Matrosen in dieser Bar.) ... »Clemens!«
    »Hörst du, Big Boy, dein Freund war in Amerika, er ist gerade erst zurück.« Seine Mutter beugt sich zu ihm runter und zeigt in meine Richtung. Ich trete näher zu ihm ran und lege meine Hand auf die Decke. Seine Augen sind riesig und trüb in seinem geschrumpftem Gesicht, aber er erkennt mich, und er weiß nicht, dass ich seit Wochen aus Amerika zurück bin, nur ein paar Tage dort gewesen bin, Boston, New York und dazwischen wieder hier in der Stadt. Und ich habe keine Karte geschrieben, obwohl ich ihm vor Monaten versprochen hatte, von meinen Reisen zu schreiben. Es würgt mich, als wenn eine Faust mir vom Magen her in den Schlund greifen würde. Der Schnaps unter meiner
Nase hilft nicht mehr, und ich trete wieder ein paar Schritte zurück, weil ich Angst habe, ihm auf die Decke zu kotzen. Er ist still jetzt, sein Kopf ist ins Kissen gesunken, und sein spitzer Kehlkopf zeigt auf mich wie ein Finger. »Warum bist du nicht gekommen, warum besuchst du mich nicht öfter, warum schreibst du nicht. Ich war noch niemals in New York ...«
    Das Lied dröhnt durch die Bar, und er wippt mit den Schultern im Takt. Es gibt keine Entschuldigungen, keine Ausreden mehr. »Ich bin bei deinem Bruder und deiner Mutter gewesen, nachdem du tot warst.« (»Du musst über ihn schreiben«, hat sein Bruder gesagt. »Ja, irgendwann sicher.« Und ich habe auch ...) »Ich habe auch schon über dich geschrieben«, sage ich, »ohne dich hätte ich mein erstes Buch nie schreiben können, ohne die Zeit mit dir ...«
    Er lächelt. »Hab ich dir mal erzählt, wie ich versucht habe, meinen Vater wiederzubeleben, vor vier Jahren? Wie ich auf ihm gehockt habe und alles versucht hab, aber er einfach nicht zurückgekommen ist?«
    »Ja«, sage ich, »du warst nicht mehr derselbe danach.«
    Er nickt.
Geht doch weg, ihr scheiß Fliegen, geht doch weg von ihm
. »Wirst du auf LB aufpassen?«
    »Ja«, sage ich, »natürlich.«
    »Wirst du aufpassen, dass ihm nicht alles entgleitet?«
    »Ich werd’s versuchen«, sage ich.
    »Hab ich dir von meinem Vater erzählt? Wie ich auf ihm gehockt habe, früh am Morgen?«
    »Du warst ... du warst nicht mehr derselbe ...«
    Ist es das, denke ich, hat
das
in dir gefressen? War das einer der riesigen Würmer, die dich von innen ausgehöhlt haben, bis nur noch krankes Fleisch übrig war? »Kennst du diesen Film«, sage ich, »wo der Typ, Harvey Keitel spielt
ihn, sagt, dass du für deine Sünden nicht in der Kirche, sondern

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