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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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zu sein, meine S-Bahn fährt bald, und der Mann rutscht ein wenig zur Seite, liegt halb auf der Bank. Vielleicht ist er eingeschlafen.
Ich stopfe die Münzen in meine Taschen und laufe weiter in den Bahnhof hinein. Die Halle mit den Fahrkartenschaltern ist auf der unteren Ebene. Aber sind es die Fahrkartenschalter, die ich suche? Ich höre das Flattern von Tauben und blicke hoch zu dem Glasdach, das sich über die Bahnsteige wölbt. Da sind keine Tauben. Schon lange sind keine Tauben mehr in unserem Bahnhof. Früher war das Glas dort oben dunkel und schmutzig und zerbrochen, so dass die Tauben ihren Weg hinein fanden. Aber wieso ist keine einzige mehr da? Die großen, stählernen Torbögen, durch die die Züge ein und aus fahren (Kopfbahnhof! Der größte Europas!, hieß es früher), sind offen. Vielleicht kommen nachts, wenn der Bahnhof fast leer ist, die Taubenjäger, mit großen Netzen werden die Verirrten eingefangen, neben McDonald’s ist eine kleine Tür, die führt direkt ins Fleischkühlhaus.
    Langsam gehe ich an den vielen Bahnsteigen vorbei. Es ist gegen Mittag, irgendwann im Juli, und sehr viel Licht fällt durch das Glasdach. Die Berge, ich muss doch die Berge suchen, diese Stelle am Scheitelpunkt des V, von dort muss man einen wunderbaren Blick über die felsigen Hänge und die Wälder haben. »Clemens! Cleeemens!« Nein. Lautsprecheransagen. »Der Intercity-Express ... zur Weiterfahrt nach Berlin-Gesundbrunnen ... aufgrund einer Betriebsstörung ... zwanzig Minuten Verspätung.« Menschenmassen. Bahnsteig 11 . Dort stehen sie dicht gedrängt und warten auf den Zug nach Berlin, aus München kommt der, ein weiter Weg, da kann viel passieren unterwegs. »Ladies and gentlemen, this is a non smoking station!« Bitte hör doch endlich auf, meinen Namen zu rufen, dass es in der Halle und mir in den Ohren dröhnt! Aber wer ...? Ich will es nicht wissen, aber weiß es doch. Vielleicht sollte ich nach
Berlin fahren, eine Stunde zehn Minuten, in der Zeit ist man mit der S-Bahn kaum raus aus der Stadt.
    Vor ein paar Jahren, das muss 2003 gewesen sein, im Herbst, da hatte ich gerade mein Studium am Deutschen Literaturinstitut beendet, habe ich ein paar Wochen, oder waren es Monate?, nachts in den Zügen und S-Bahnen gearbeitet, habe sie saubergemacht, eine richtige Reinemachbrigade waren wir, einer kehrte, einer wischte, einer putzte die Fenster, einer die Klos, einer leerte die Abfallbehälter. Die Klos waren begehrt, die brachten Zuschläge. Ich laufe ein Stück über den langen Bahnsteig, der plötzlich leer ist, aber wahrscheinlich bin ich auf einem anderen, 13 oder 14 , den Zug hätte ich doch ankommen und abfahren gehört, ich blicke zu dem großen Rundbogen am Ende des Bahnsteigs, sehe den Himmel und Häuser hinter einer langen Mauer und das Wirrwarr der glitzernden Schienen. Dort sind wir marschiert in den Nächten, immer an den Gleisen entlang, vom Bahnreinigungswerk, wo wir uns trafen zu Schichtbeginn, ein, zwei Kilometer entfernt, bis zum Bahnhof und zurück. Ich war kein guter Kehrer, das haben sie mir immer wieder gesagt. Eine Kontrollkommission war manchmal hinter uns her, kontrollierten jeden Dezimeter Boden, sie leuchteten mit Taschenlampen von innen gegen die gesäuberten Scheiben, seltsam sah das aus von außen, wenn wir bereits in Richtung des nächsten Zuges unterwegs waren, wie riesige Glühwürmchen, die durch die Waggons flatterten, bis sie dann plötzlich wieder verschwanden; zwischen den dunklen Zügen sah ich manchmal die Taubenfänger, die Netze eingerollt.
    Ich stehe vor der Bar, gleich neben der großen Treppe, die auf die untere Ebene führt. Unterhalb der Treppe liegt die Halle mit den Fahrkartenschaltern, davor lange Schlangen,
die in seltsamen Mustern durch die Halle führen und sich kreuzen. Ich betrete die Bar. Vor etlichen Jahren haben sie alles renoviert und umgebaut, der Bahnhof ist ein riesiger Einkaufsmarkt geworden, die Züge rattern durch Aldi und Plus und Bekleidungsgeschäfte.
    Ein paar Männer hocken am Tresen und trinken Bier. Eine ältere Frau sitzt alleine an einem der Tische neben den Fenstern, durch die man auf die Treppe sehen kann und in das Friseurgeschäft auf der anderen Seite der Treppe. Ich sehe eine Frau dort, die einen Mann frisiert, der sehr lange Haare hat. Ich kann die Schere erkennen, in der anderen Hand hält sie einen schwarzen Kamm. Ich weiß nicht genau, ob es diese Bar schon immer gab. Wenn ich früher mit meinen Eltern verreiste, waren wir

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