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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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der
heißen Sonne gelaufen und war nicht vorbereitet auf diesen Geruch. Ein flacher, zweistöckiger Gebäudekomplex in der Form eines eckigen U, mit viel Grün drum herum, ein Garten im Inneren des U, das sehe ich später, als ich auf dem Balkon, der eher eine große Veranda ist, sitze und rauche und den Rest von meinem Braunen trinke. Seine Mutter sitzt neben mir, auch sie raucht, und wir blicken schweigend in den Garten, nein, wir haben doch die ganze Zeit erzählt, weil wir nicht schweigen konnten. Auf einem der Nachbarbalkone, eigentlich ist es ein einziger großer Balkon, eine große Veranda, die von Zimmer zu Zimmer führt, sitzt ein Mann und hört Musik aus einem Kofferradio. Chris Norman,
Midnight Lady
. Ich mag Chris Norman, habe eine ganze CD -Box von ihm. Ich stehe vorm Bett und blicke auf ihn runter. Zwinge mich dazu, und der Schnaps tropft mir aus den Nasenlöchern.
    »Und, spielen wir ’ne Runde?« Er legt Karten auf den Tisch, schiebt die Gläser zur Seite. Züge und Berge, Sommer, die Leute fahren an den See, Lautsprecheransagen und Menschen auf der Treppe, der Friseursalon ist dunkel und leer. »Eine Schande«, sage ich, »es ist eine verdammte Schande. Eine Frechheit, eine unglaubliche Frechheit!«
    »Was?« Er gibt mir fünf Karten. » DAS !« Ich kann es nicht begreifen und will es nicht akzeptieren, wie er da so liegt. »Clemens!« Ein gequältes Krächzen, sein Mund und sein Gesicht scheinen geschrumpft, erinnern mich an das Schnäuzchen einer Maus, einzelne Barthaare auf der Oberlippe. Er erkennt mich, sein Körper krümmt sich, und die Decke verrutscht. »Clemens!« Ich weiß nicht, wie ich die Dinge zusammenbekommen soll, alles bewegt sich in mehrere Richtungen, immer schneller, und dann plötzlich wieder ganz moderat, dass ich Luft holen kann; ich, und wahrscheinlich
nicht nur ich, sondern auch die
anderen
, befinden sich in einem von diesen Gravitationsstrudeln, von denen Stanislaw Lem in seinen
Sterntagebüchern
schreibt, der Weltraumreisende Ijon Tichy sieht und trifft sich selbst, während er durch sein Raumschiff irrt, dessen Körper er reparieren muss, und die beiden Mädchen halten sich an den Schultern und schieben ihre Limogläser über den Tisch.
    Ein Mensch, wie eine Strohpuppe so dünn und auch so gelb. Seine Schwester sitzt neben ihm auf einem Stuhl und hält seine Hand. Ich stelle eine kleine Flasche Braunen auf den Nachttisch, die ich vorher auf dem Bahnhof gekauft habe. War ich nicht dort in der Bar gewesen und habe getrunken, weil ich nicht die Kraft habe, zu ihm zu gehen? Wann habe ich überhaupt angefangen, mit der S-Bahn vor die Stadt zu fahren und zu suchen?
    Wir spielen, die Karten fühlen sich sehr glatt an zwischen meinen Fingern, was spielen wir überhaupt? Poker? Texas Hold'em wie auf BBs Balkon, als er ein paar Monate zu Hause war und dachte, er könnte
bleiben,
und ich noch den Mut hatte, ihn ab und an zu besuchen (Wir haben Fußball geguckt, EM 2008 , und ich habe mich nicht getraut, von der nächsten EM oder WM zu erzählen, das große Poster mit den Ergebnissen, die er selbst eingetragen hat, hängt heute noch an der Tür seines Zimmers, in dem jetzt sein Bruder LB wohnt), oder Schwindelmäx oder Knack oder dieses seltsame Spiel namens
Fotze
?, die Bar ist leer jetzt, wir sitzen ganz alleine, selbst die Bedienung ist verschwunden. »Und ich habe gedacht, du bist mein Freund.«
    »Aber verdammt nochmal, das bin ich doch!«, rufe ich und knalle meine Karten auf den Tisch, »wie könnte ich das jemals vergessen!« Aber ich habe viel vergessen in den letzten Monaten, weiß nicht mehr, wie die Dinge zusammengehören,
weiß nicht mehr, in welche Richtung ich gehe, sehe mich selbst und manchmal doppelt in den Gravitationsstrudeln, irre über den Bahnhof und durch die Züge und S-Bahnen und durchs sächsische Bergland, sitze im
Brick’s
und studiere die Zeitungen, reiße Artikel und Berichte über die scheußlichsten Verbrechen und Geschehnisse raus und sammele sie in den Innentaschen meiner Jacke und später in großen Mappen, ein paar hängen an der Pinnwand über meinem Schreibtisch.
    Aber
das
musste ich nicht rausreißen, habe es aus nächster Nähe gesehen, aber manchmal macht das keinen Unterschied in meinem Kopf, es mischt sich und bewegt sich, und dazu kommen die Träume und die Stimmen in den Träumen, von denen schon der Schriftsteller und Menschen- und Seelensammler Walter Kempowski erzählte (aber der war fast fünfzig Jahre älter als ich und hat fast

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