Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
vollständig auszudrücken, bevor wir unsere Aufmerksamkeit einer Lösung oder einer Bitte zuwenden. Gehen wir zu schnell zu dem über, was jemand eventuell erbitten möchte, dann besteht die Gefahr, daß unser echtes Interesse an den Gefühlen und Bedürfnissen der anderen Person nicht deutlich wird; statt dessen entsteht unter Umständen der Eindruck, daß wir es eilig damit haben, sie entweder wieder loszuwerden oder ihr Problem „in Ordnung“ zu bringen. Zudem ist eine erste Äußerung oft nur die Spitze eines Eisberges; es können bisher nicht ausgedrückte, aber dazugehörige – und oft viel stärkere – Gefühle folgen. Indem wir mit unserer Aufmerksamkeit bei dem bleiben, was in anderen vorgeht, bieten wir ihnen die Möglichkeit, ihr Inneres voll und ganz zu ergründen und auszudrücken. Diesen Fluß würden wir aufhalten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit zu schnell entweder auf die Bitten verlagern oder auf unseren Wunsch, selbst zu Wort zu kommen.
Wenn wir im einfühlsamen Kontakt bleiben, ermöglichen wir es dem Sprechenden, mit tieferen Ebenen seiner selbst in Kontakt zu kommen.
Nehmen wir an, eine Mutter sucht uns auf und sagt: „Mein Junge ist unmöglich. Egal, was ich ihm auftrage, er hört einfach nicht zu.“ Wir können ihre Gefühle und Bedürfnisse widerspiegeln, indem wir z.B. sagen: „Das klingt, als wären Sie verzweifelt und auf der Suche nach einer Möglichkeit, mit Ihrem Sohn wirklich in Kontakt zu kommen.“ So eine Wiedergabe ermutigt einen Menschen oft, nach innen zu schauen. Wenn wir ihre Aussage richtig wiedergegeben haben, kommt die Mutter vielleicht in Kontakt mit anderen Gefühlen: „Vielleicht ist es mein Fehler. Ich schreie ihn immer an.“ Wir würden als Zuhörer weiterhin bei den angesprochenen Gefühlen und Bedürfnissen bleiben und z.B. erwidern: „Fühlen Sie sich schuldig, weil Sie ihm gerne mehr Verständnis entgegengebracht hätten, als das manchmal der Fall war?“ Wenn die Mutter weiterhin Verständnis in unserer Wiedergabe spürt, geht sie vielleicht tiefer in ihre Gefühle hinein und verkündet: „Ich bin einfach eine Niete als Mutter.“ Wir bleiben weiterhin bei ihren Gefühlen und Bedürfnissen: „Fühlen Sie sich entmutigt und würden gerne anders mit ihm in Verbindung treten?“ Wir machen so weiter, bis die Person alle ihre Gefühle zu dem Thema ausgedrückt hat.
Wir wissen, daß unser Gesprächspartner genügend Empathie bekommen hat, wenn ...
a. wir ein Nachlassen der Anspannung spüren oder
b. wenn der Sprechfluß versiegt.
Welchen Beweis gibt es, daß wir der anderen Person die richtige Einfühlung gegeben haben? Zum einen erlebt ein Mensch, der volles Mitgefühl und Verständnis für alles bekommen hat, was in ihm vorgeht, ein Gefühl der Erleichterung. Wir können uns dieses Phänomens bewußt werden, wenn wir ein entsprechendes Nachlassen der Anspannung in unserem eigenen Körper bemerken. Ein zweites, noch deutlicheres Zeichen besteht darin, daß der andere aufhört zu sprechen. Wenn wir uns unsicher sind, ob wir lange genug in dem Prozeß geblieben sind, können wir auch immer fragen: „Gibt es noch etwas, das Sie sagen möchten?“
Wenn Schmerz unsere Empathiefähigkeit blockiert
Eine Mutter kann ihren Säugling nicht stillen, wenn sie nicht selbst genügend Nahrung erhält. Genauso ist es, wenn wir selbst trotz aller Anstrengungen unfähig oder nicht willens sind, Empathie aufzubringen. Das weist uns dann meistens darauf hin, daß unser eigener Hunger nach Empathie zu groß ist, als daß wir für andere einfühlsam da sein könnten. Manchmal, wenn wir offen dazu stehen, daß unsere eigene Anspannung eine empathische Reaktion auf den anderen nicht zuläßt, bekommen wir von ihm oder ihr möglicherweise die Empathie, die wir gerade brauchen.
In anderen Situationen kann es notwendig sein, daß wir uns selbst zunächst mit etwas Einfühlung aus der „Notfall-Empathie“ versorgen, indem wir mit der gleichen Qualität an Präsenz und Aufmerksamkeit, die wir anderen anbieten, dem zuhören, was in unserem eigenen Inneren vorgeht. Der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, sagte einmal: „Je intensiver du deiner inneren Stimme zuhörst, desto besser wirst du erfassen, was in der äußeren Welt vor sich geht.“ Wenn wir geübter darin werden, uns selbst Empathie zu geben, dann erleben wir oft in nur wenigen Sekunden ein natürliches Freisetzen von Energie, die es uns dann möglich macht, für die andere Person
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