Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
weinen.) Ja, ich habe solche Angst!
Schwester: Haben Sie Angst, ihn zu verlieren?
Frau: Ja, wir waren so lange zusammen.
Schwester: (Hört auf andere Gefühle hinter der Angst.) Machen Sie sich Sorgen darüber, wie es Ihnen gehen wird, wenn er stirbt?
Frau: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ich ohne ihn weiterleben soll. Er war immer für mich da. Immer.
Schwester: Sind Sie traurig, wenn Sie daran denken, ohne ihn zu leben?
Frau: Es gibt niemanden außer ihm. Er ist alles, was ich habe, wissen Sie. Meine Tochter spricht ja gar nicht mit mir.
Schwester: Das klingt so, als fühlten Sie sich frustriert, wenn Sie an Ihre Tochter denken, weil Sie sich einen anderen Kontakt mit ihr wünschen?
Frau: Das hätte ich gerne, aber sie ist ja so selbstsüchtig. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe gemacht habe, Kinder zu bekommen. Das ist jetzt ganz toll für mich!
Schwester: Das hört sich für mich so an, als wären Sie ein bißchen verärgert und enttäuscht, weil Sie sich von Ihrer Familie mehr Unterstützung wünschen mit der Krankheit Ihres Mannes?
Frau: Ja, er ist so krank; ich weiß nicht, wie ich das alles alleine durchstehen soll. Ich habe niemanden ... nicht mal zum Reden, außer Ihnen jetzt ... hier. Nicht mal er möchte darüber sprechen. ... Schauen Sie ihn an! (Ihr Mann bleibt still und gelassen.) Er sagt gar nichts!
Schwester: Sind Sie traurig und wünschen sich, daß Sie beide sich gegenseitig unterstützen könnten und sich enger miteinander verbunden fühlen?
Frau: Ja. (Sie macht eine Pause und spricht dann eine Bitte aus.) Sprechen Sie so mit ihm, wie Sie mit mir sprechen.
Schwester: (Möchte gerne das Bedürfnis, das hinter der Bitte der Frau angesprochen wird, klar verstehen.) Möchten Sie, daß ihm auf eine Weise zugehört wird, die ihm hilft, das auszudrücken, was er innen fühlt?
Frau: Ja, ja, genau das ist es! Ich möchte gerne, daß er sich wohlfühlt, wenn er spricht, und ich möchte wissen, was er fühlt. (Indem sie die Vermutung der Schwester aufgreift, ist es der Frau möglich, sich bewußt zu werden, was sie selbst möchte und dafür auch Worte zu finden. Das ist eine Schlüsselsituation: Oft fällt es Leuten schwer herauszufinden, was sie in einer Situation wollen – auch wenn sie vielleicht wissen, was sie nicht wollen. Wir sehen, wie eine klare Bitte („Sprechen Sie so mit ihm, wie Sie mit mir sprechen“) ein Geschenk ist, das der anderen Person Kraft gibt. Die Schwester ist jetzt in der Lage, sich so zu verhalten, daß ihr Verhalten mit den Wünschen der Frau übereinstimmt. Das verändert die Atmosphäre im Raum, da die Schwester und die Frau jetzt „zusammenarbeiten“, beide in mitfühlender Stimmung.
Schwester: (Wendet sich dem Ehemann zu.) Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Worte Ihrer Frau hören?
Mann: Ich liebe sie wirklich.
Schwester: Freuen Sie sich, daß Sie die Gelegenheit haben, mit ihr darüber zu sprechen?
Mann: Ja, wir müssen darüber sprechen.
Schwester: Wären Sie bereit zu sagen, wie Sie sich mit dem Krebs fühlen?
Mann: (Schweigt kurz.) Nicht sehr gut. (Die Wörter „gut“ und „schlecht“ werden oft benutzt, um Gefühle zu beschreiben, die erst noch genauer bestimmt werden müssen. Seine Gefühle genauer auszudrücken würde dem Mann helfen, die Gefühlsverbindung herzustellen, die er sich mit seiner Frau wünscht.)
Schwester: (Ermutigt ihn zu einem genaueren Gefühlsausdruck.) Haben Sie Angst vorm Sterben?
Mann: Nein, ich habe keine Angst. (Achten Sie darauf, daß die unrichtige Vermutung der Schwester dem Gesprächsfluß keinen Abbruch tut.)
Schwester: Ärgern Sie sich über das Sterben? (Da sich der Patient schwer damit tut, seine inneres Erleben in Worte zu fassen, unterstützt ihn die Schwester weiter in dem Prozeß.)
Mann: Nein, ich ärgere mich nicht.
Schwester: (An diesem Punkt, nach zwei unrichtigen Vermutungen, entschließt sich die Schwester zur Offenheit über sich selbst.) Tja, jetzt bin ich etwas unsicher darüber, wie es Ihnen gehen mag; können Sie es mir vielleicht sagen?
Mann: Ich glaube, ich denke daran, wie sie ohne mich zurechtkommen wird.
Schwester: Oh, machen Sie sich Sorgen, daß es ihr ohne Sie vielleicht nicht gelingen wird, ihr Leben zu meistern?
Mann: Ja, ich mache mir Sorgen, daß sie mich vermissen wird.
Schwester: (Ist sich bewußt, daß sich sterbende Patienten oft an der Sorge über die Zurückbleibenden festklammern. Die Patienten brauchen manchmal die Versicherung, daß die geliebten
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