Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
daß die Diagnose von Patienten in psychiatrischen Kliniken mehr von der Ausbildungsrichtung des Psychiaters abhängt als von den Charaktereigenschaften des Patienten selbst.
Ich fuhr fort, daß ich eine Abwehr hätte, mit diesen Kriterien zu arbeiten, auch wenn sie hier im Krankenhaus stringent angewendet würden, weil mir der Nutzen für die Patienten nicht nachvollziehbar wäre. In der Normalmedizin führt die genaue Diagnose des Erkrankungsprozesses, der die Krankheit verursacht hat, oft zu einer klaren Behandlungsrichtung, aber diese Art der Verknüpfung von Ursache und Wirkung konnte ich auf dem Gebiet, das psychische Erkrankung genannt wird, nicht ausmachen. Nach meiner Erfahrung aus Diagnosekonferenzen in Krankenhäusern verbrachten die Mitarbeiter ihre meiste Zeit damit, über Diagnosen zu beraten. Wenn sich die vorgesehene Zeit bedrohlich ihrem Ende näherte, appellierte der verantwortliche Psychiater meistens an die anderen, ihm bei der Entwicklung eines Behandlungsplans zu helfen. Diese Bitte wurde häufig zugunsten weiteren Feilschens um die Diagnose überhört.
Ich erklärte dem Psychiater, daß mir die GFK nahelegt, nicht in Kategorien von „was mit einer Patientin nicht stimmt“ zu denken, sondern mir statt dessen die folgenden Fragen zu stellen: „Was fühlt diese Person? Was braucht sie oder er? Wie fühle ich mich in bezug auf diesen Menschen und welche Bedürfnisse liegen hinter meinen Gefühlen? Um welche Handlung oder Entscheidung möchte ich diese Person bitten, damit sie dadurch ein glücklicheres Leben führen kann?“ Da die Antworten auf diese Fragen viel von uns selbst und unseren Werten offenlegen, fühlen wir uns sehr viel verletzlicher, als wenn wir einfach eine Diagnose über die jeweilige Person abgeben sollen.
Bei einer anderen Gelegenheit wurde ich engagiert, um zu demonstrieren, wie man Leute, die als chronisch schizophren diagnostiziert sind, in der GFK trainieren kann. Fünfzehn Patienten mit dieser Diagnose waren auf einer Bühne für mich versammelt worden. Achtzig Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiter und Krankenschwestern schauten zu. Während ich mich vorstellte und die Ziele der GFK erläuterte, zeigte einer der Patienten eine Reaktion, die mit dem, was ich sagte, scheinbar nichts zu tun hatte. Ich dachte an seine Diagnose als chronisch schizophren und erlag dem klinischen Denken, indem ich annahm, daß ich ihn deshalb nicht verstehen konnte, weil er verwirrt war. „Sie scheinen Schwierigkeiten zu haben, meinen Worten zu folgen“, bemerkte ich.
Hier sprang ein anderer Patient ein: „Ich verstehe, was er meint“. Dann machte er die Bedeutung der Worte seines Mitpatienten in bezug auf meine Einführung deutlich. Als ich erkannte, daß der Mann nicht verwirrt war, sondern daß ich einfach nicht die Verbindung zwischen unseren Gedanken erfaßt hatte, war ich bestürzt über die Leichtigkeit, mit der ich ihm die Verantwortung für unsere Kommunikationslücke zugeschustert hatte. Ich hätte lieber zu meinen Gefühlen stehen und z. B. sagen sollen: „Ich bin verwirrt. Ich würde gerne die Verbindung sehen zwischen dem, was ich gesagt habe, und Ihrer Antwort, ich sehe sie aber nicht. Würden Sie mir bitte erklären, wie sich Ihre Worte auf das beziehen, was ich gesagt habe?“
Mit Ausnahme von diesem kurzen Ausrutscher ins klinische Denken verlief die Sitzung mit den Patienten erfolgreich. Die Mitarbeiter waren beeindruckt von den Antworten der Patienten und fragten mich, ob ich diese Patientengruppe für außergewöhnlich kooperativ halten würde. Ich antwortete: „Wenn ich es vermeide, Menschen zu diagnostizieren und statt dessen mit der lebendigen Energie in ihnen und in mir in Verbindung bleibe, dann reagieren sie normalerweise sehr positiv.“
Ein Mitarbeiter bat dann um eine ähnliche Sitzung mit Psychologen und Psychiatern als Teilnehmern, um auch daraus zu lernen. Zu diesem Zweck tauschten die Patienten, die auf der Bühne waren, ihre Plätze mit einigen Freiwilligen aus dem Publikum. Bei der Arbeit mit den Mitarbeitern gelang es mir nur schwer, einem der Psychiater den Unterschied zwischen intellektuellem Verstehen und der Empathie in der GFK klarzumachen. Immer wenn jemand in der Gruppe seine Gefühle ausdrückte, bot er seine Sicht der psychologischen Dynamik dieser Gefühle an, statt Empathie für die Gefühle auszudrücken. Als das zum dritten Mal geschah, platzte einer der Patienten aus dem Publikum heraus: „Sehen Sie denn nicht, daß Sie schon
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