Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
stressen lassen? Habe ich dies getan; habe ich jenes gelassen? Aber da ich ja jetzt mit der GFK daran arbeitete, mich besser um mich selbst zu kümmern, fragte ich statt dessen: ,Was brauche ich jetzt in diesem Moment mit diesen Kopfschmerzen?‘
Richten wir unsere Aufmerksamkeit lieber auf das, was wir tun wollen, statt auf das, was schiefgelaufen ist.
Ich setzte mich auf und ließ meinen Nacken eine Weile ganz langsam kreisen, dann stand ich auf und lief langsam umher. Ich machte noch andere Sachen, um gut für mich zu sorgen – statt mich selbst fertigzumachen. Meine Kopfschmerzen ließen soweit nach, daß ich den Trainingstag mitmachen konnte. Das war ein riesengroßer Durchbruch für mich. Was ich herausbekam, als ich meinen Kopfschmerzen Empathie gab, war folgendes: Ich hatte mir selbst am Tag zuvor nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, und mit den Kopfschmerzen sagte ich zu mir: ,Ich brauche mehr Aufmerksamkeit‘. Das führte dazu, daß ich mir selbst die Aufmerksamkeit gab, die ich brauchte. So konnte ich dann den Tag im Workshop mitmachen. Ich habe mein ganzes Leben lang Kopfschmerzen gehabt, und das war ein sehr wichtiger Wendepunkt für mich.“
In einem anderen Workshop fragte ein Teilnehmer, wie man die GFK einsetzen kann, um sich auf der Autobahn von Gedanken freizumachen, die Ärger hervorrufen. Das Thema kannte ich sehr gut! Jahrelang war es Teil meiner Arbeit gewesen, mit dem Auto kreuz und quer durchs Land zu fahren, und die gewaltauslösenden Gedanken, die ständig durch meinen Kopf rasten, machten mich völlig kaputt. Jeder, der nicht so fuhr, wie ich mir das vorstellte, war mein Erzfeind, ein rechter Bösewicht. Alle möglichen Sätze schossen mir in den Kopf: „Was zum Teufel ist los mit dem Typen da!? Merkt er denn nicht, wo er hinfährt?“ In diesem mentalen Zustand wollte ich nichts lieber tun, als den anderen Fahrer zu bestrafen, und da ich das nicht konnte, trieb der Ärger in meinem Körper sein Unwesen und kassierte seinen Tribut.
Dann lernte ich schließlich, meine Urteile in Gefühle und Bedürfnisse zu übersetzen und mir selbst Empathie zu geben: „Oh je, es jagt mir schreckliche Angst ein, wenn jemand so fährt, ich wünsche mir wirklich, daß die Leute merken, wie gefährlich ihre Fahrweise ist!“ Puh! Ich wunderte mich, wie sehr ich den Streß in diesen Situationen herunterschrauben konnte, einfach indem ich mir über meine Gefühle und Bedürfnisse bewußt wurde, statt anderen Vorwürfe zu machen.
Wir bauen Streß ab, wenn wir auf unsere Gefühle und Bedürfnisse hören.
Später beschloß ich dann, den anderen Fahrern Empathie zu geben, und da wurde ich mit einem sehr erfreulichen ersten Erlebnis belohnt. Ich hing hinter einem Auto fest, das viel langsamer fuhr, als es erlaubt war, und von Kreuzung zu Kreuzung auch noch langsamer wurde. Als ich anfing zu kochen und zu grollen „So fährt man doch nicht“, fiel mir der Streß auf, den ich mir selbst machte. Daraufhin verlagerte ich meine Gedanken auf das, was der Fahrer eventuell fühlte und brauchte. Ich spürte, daß die Person nicht mehr wußte, wo sie war, sich verwirrt fühlte und sich ein bißchen Geduld von den Autos hinter ihr wünschte. Als die Straße breit genug wurde, überholte ich sie und sah in dem Wagen eine etwa achtzigjährige Frau mit einem sehr angsterfüllten Ausdruck im Gesicht. Da war ich froh, daß mein Empathie-Versuch mich davon abgehalten hatte, zu hupen oder eine meiner sonstigen Taktiken anzuwenden, um anderen Fahrern mein Mißfallen zu zeigen.
Wir bauen Streß ab, indem wir anderen unsere Empathie geben.
Diagnosen durch Gewaltfreie Kommunikation ersetzen
Vor langer Zeit, als ich gerade neun Jahre meines Lebens in Ausbildungen und Diplome investiert hatte, die ich für meine Anerkennung als Psychotherapeut brauchte, nahm ich an einem Gespräch zwischen dem israelischen Philosophen Martin Buber und dem amerikanischen Psychologen Carl Rogers teil, in dem Buber die Frage aufwarf, ob ein Psychotherapeut überhaupt in der Lage sei, psychotherapeutisch zu arbeiten. Buber besuchte zu der Zeit die Vereinigten Staaten und war gemeinsam mit Carl Rogers zu einer Podiumsdiskussion vor psychologischen Fachkräften in einem psychiatrischen Krankenhaus eingeladen worden.
In diesem Gespräch stellte Buber die These auf, daß menschliche Weiterentwicklung dann passiert, wenn sich in einer Begegnung zwei Menschen in einer, wie er es nannte, „Ich-Du“-Beziehung verletzlich und authentisch
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