Gewitter der Liebe
locken, damit ihr euch damit ins Verderben zu stürzt.«
Wütend raffte Lilly ihren Lohn und auch Julias ein, zerrte ihre zögernde Freundin mit sich und stapfte aus dem Lohnbüro; das höhnische Gelächter der beiden Buchhalter folgte ihnen. »Dumme Kerle!«, schimpfte sie auf dem Weg zum Fabriktor. »Machen sich über etwas lustig, von dem sie keine Ahnung haben.«
Julia zupfte sie am Ärmel. »Und wenn sie recht haben? Wenn all diese Geschichten über Kalifornien nichts als Lügen sind? Dann landen wir vom Regen in der Traufe, und das Geld für eine Rückkehr haben wir nicht.«
»Du glaubst doch nicht, was diese Männer gesagt haben? Vielleicht spielen sie sogar selbst mit dem Gedanken, ihre schlecht bezahlte Arbeit aufzugeben, um an der Westküste nach Gold zu suchen. Aus denen spricht nur der Neid, weil wir beide gehen können, wonach uns das Herz steht, während sie an New York gebunden sind, weil sie ihre Familien zu ernähren haben.«
Ratlos hob Julia die Schultern und beobachtete Lilly argwöhnisch, als sie sich über einen Abfalleimer beugte und darin herumfischte. Triumphierend hob sie schließlich eine Tageszeitung in die Höhe. Es war die neueste Ausgabe, und auf der Titelseite war ein großer Bericht über Kalifornien zu sehen.
Viel Zeit zum Lesen hatten die beiden Frauen allerdings nicht, denn sie mussten packen, wenn sie nicht ihre Postkutsche nach Missouri verpassen wollten.
Viel zum Packen gab es freilich nicht; die wenigen Habseligkeiten der beiden Frauen passten in einen billigen Pappkoffer. Bis zur Poststation im East End hatten sie einen stundenlangen Fußmarsch vor sich. Kurz dachten sie darüber nach, eine Droschke zu nehmen, entschieden sich dann jedoch aus Kostengründen dagegen.
Das gestohlene Dollarbündel wanderte in den Geldbeutel, den Julia um den Hals tragen sollte, und leistete dort den Ersparnissen und dem Restlohn Gesellschaft.
Es war erst früher Vormittag, als sie reisefertig waren und sich zum letzten Mal mit feierlichen Mienen auf ihren unbequemen, quietschenden Betten niederließen. Sie würden ihr schäbiges Quartier verlassen, ohne den Vermieter zu informieren. Da sie nichts kaputt gemacht hatten und die Kammer somit im selben Zustand verließen, wie sie sie bezogen hatten, konnte sie sofort wieder vermietet werden. Interessenten würde es genug geben, denn an jeder zweiter Hausmauer waren Zettel von Wohnungssuchenden zu finden.
Stumm blickte sich Julia noch einmal in dem kargen Raum um, der mehrere Jahre ihr Heim gewesen war. Die feuchten grauen Wände, das einzige winzige Dachfenster, der rissige Fußboden – nicht zu vergessen das spärliche ramponierte Mobiliar – all dies würde Julia nicht eine einzige Sekunde vermissen.
Sie und Lilly hatten sich versprochen, immer zusammenzubleiben; das beruhigte Julia. Es war mutig, sich auf die Reise ins Ungewisse zu machen, aber wenn man wusste, dass man nicht allein war, ließ sich vieles ertragen.
Ganz allmählich fühlte Julia Reisefieber und Fernweh in sich aufsteigen; Gefühle, die ihr bisher unbekannt waren. Bis zu diesem Augenblick hatte sie wie in Trance reagiert, hatte sich von Lilly mitreißen lassen. Doch jetzt schüttelte sie die letzten Bedenken ab und begann, sich zaghaft auf die Zukunft zu freuen.
Als Lilly energisch aufsprang, schrak Julia aus ihren Gedanken und fragte: »Ist es soweit?«
Die Freundin nickte, steckte die Zeitung, in der sie hatte lesen wollen, es dann aber vor Nervosität doch gelassen hatte, zuoberst in den Pappkoffer.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließen sie ein letztes Mal ihr schäbiges Zuhause und schlängelten sich durch das schmale Treppenhaus, in dem es wie immer übel roch.
Draußen, vor der Haustür, holte Lilly tief Luft, stieß Julia leicht mit dem Ellenbogen an und rief: »Auf ins gelobte Land Kalifornien!«
2
Die folgenden Tage gestalteten sich unbequemer, als die beiden Auswanderinnen geahnt hatten. Die Poststation war völlig überfüllt; bei den meisten Reisewilligen handelte es sich um junge Männer, ausgerüstet mit Gerätschaften, die sie bei der Goldsuche benötigen würden. Es schien mehr Reisende zu geben als Plätze in den Kutschen, wie es schien.
Doch schließlich ergatterten Julia und Lilly zwei der begehrten Plätze – aber nur, weil Lilly log, dass sie schwanger war und zu ihrem Ehemann nach Kalifornien reisen wollte.
Es waren schreckliche Tage und Nächte in der engen Kutsche. Dicht aneinander gedrängt saßen die Leute da, und nicht selten
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