Gewitter über Pluto: Roman
Zeichnungen von Ingres, Toulouse-Lautrec und Modigliani. Das
Patengetue kam bloà dann zur Anwendung, wenn es nicht anders ging, wenn
gewissermaÃen das Publikum danach verlangte. Doch in diesen Museumsräumen verlangte
niemand danach. Alles und jeder erging sich in Würde und nobler Zurückhaltung,
selbst noch die Minister, was ein kleines Wunder darstellte. Aber Ingres war
einfach ein zu starkes Argument. Man flüsterte, man redete allen Ernstes über
die ausgestellten Bilder, unterlieà jeglichen Klatsch und griff nur zögernd
nach den dargereichten, ausgesprochen kleinen Häppchen, die auf ihre Weise
ebenfalls eine graphische Qualität besaÃen: ein Hauch von Speise, Essen als
Skizzeâ¦jawohl, so und so könnte es schmecken, wäre es ein
ausgewachsenes Brötchen, ein ausgewachsenes Stück Sushi. Ist es aber nicht.
Dazu Champagner in hohen Gläsern, an denen jedoch kaum genippt wurde. Eher sah
es aus, als würden all diese Leute säulenförmige Aquarien durch die Gegend
tragen. Als würde es demnächst kleine Fische regnen, nicht minder zart wie das
Essen und die Zeichnungen.
In diese bedacht-feierliche Stimmung und kunstsinnige Atmosphäre
trat nun Fritz ein, der wieder einmal über eine gefälschte Einladung verfügte,
aber diesmal, dank seiner Erscheinung, auch wirklich zu dieser Einladung paÃte.
Er wuÃte, daà Sheila und ihr Mann vor Ort sein würden, so wie er wuÃte, daà man
die Töchter daheim gelassen hatte.
Nachdem alle Gäste von Bedeutung erschienen waren, wurden die Türen
geschlossen. Man nahm Platz. Völlige Stille. Kein schepperndes Glas, kein
schmatzender Ton, keine indisponierten Hörgeräte. Der Privatsammler, dem die
Schenkung zu verdanken war, begab sich ruhigen Schrittes hinter das Rednerpult,
schob seine Brille den Nasenrücken ein Stück abwärts und kramte ein Papier aus
seiner Sakkotasche. Darauf war wohl die Rede notiert, doch es sah aus, als
zaubere er â als Draufgabe auf die Schenkung â ein zerknülltes Stück Matisse
hervor, welches er nun so sorgfältig wie liebevoll glättete, sich in der Folge
mit einem Ausdruck distinguierter Verwirrtheit im Saal umsah, dann hinüber zu
den Bildern blinzelte, als würde er sie ganz besonders willkommen heiÃen, und
schlieÃlich mit seiner Rede begann. Er war einer von diesen kleinen, hageren
alten Männern, die einen immer rühren, gleich, was sie in ihrem Leben
angestellt haben. Solche Männer wirken stets unschuldig, im Gegensatz zu den
groÃen und dicken Männern, die noch so alt werden können, ohne uns jemals ein
Gefühl der Ergriffenheit abzugewinnen.
Der Mann sprach über die Lust des Sammelns. Und über die Angst des
Sammlers vor dem Tod, die gröÃer sei als bei den anderen Menschen. Der Sammler
verliere ja nicht nur sein Leben, sondern eben auch seine Sammlung, die man
dummerweise nicht mit ins Grab nehmen könne. Denn im Unterschied etwa zu einem
hinterbliebenen Ehegatten und längst erwachsenen Kindern, die auf sich selbst
achten könnten, stehe mit dem Tod des Sammlers dessen Sammlung ungeschützt da.
Natürlich versuche man, mittels Testamenten und Stiftungen und eigenen Museen
einen Schutzwall zu errichten, aber der Sammler werde nie das Gefühl los, daÃ
es der Sammlung nach seinem Tod in irgendeiner Weise an den Kragen gehe.
Vielleicht, weil eine Sammlung ohne Sammler sinnlos anmute, als seien einem
Körper plötzlich die Knochen abhanden gekommen, sodaà das Muskelfleisch, so
kräftig es auch sein möge, völlig haltlos dastehe. Nein, diesem traurigen
Gefühl, welches der Sammler im Angesicht eines heranrückenden Todes entwickle,
sei durch keine Tricks, durch keinen noch so aufwendigen Selbstbetrugsversuch
beizukommen.
»Darum«, sagte der Mann, legte seine Brille zur Seite und sah wie
blind in die Menge, »habe ich es unterlassen, meine Sammlung in ihrer Ganzheit â und nur als Ganzes ist es auch eine Sammlung â zu erhalten. Es ist geradezu
mein Prinzip geworden, die Teile auseinanderzureiÃen, die Strukturen der
Sammlung zu ignorieren, die so lange verfolgten Schwerpunkte zu vergessen, man
könnte sagen, eine Wohnungsauflösung vorzunehmen und die einzelnen Kunstwerke
allein nach meinen Gefühlen und Launen zu verschenken. Also nicht etwa den
idealen, den einzig richtigen Platz zu finden, nicht zu versuchen, irgendeine
Lücke zu
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