Gewitterstille - Kriminalroman
Petra Kessler keine vierundzwanzig Stunden vor ihrer Mutter gestorben war. Was aber, wenn nicht? Anna blickte auf die Uhr. Ihre Haushaltshilfe Theresa war an diesem Tag bei ihr, und auch Sophie konnte, bis Georg auftauchte, auf Emily aufpassen. Anna zögerte nicht lange – sie setzte sich ans Steuer und machte sich auf den Weg nach Berlin. Sie hatte das Gefühl, dass sie es Sophie schuldig war, die noch immer so verzweifelt an Jens Asmus’ Unschuld glaubte.
42. Kapitel
D ie mondäne Auffahrt zu der zweistöckigen weißenNeubauvilla war durch ein gusseisernes Tor gesichert, weshalb Anna ausstieg und die Klingel betätigte, während sie freundlich in die Außenkamera blinzelte. Es dauerte nicht lange, bis sie eine sonore Männerstimme über die Außensprechanlage begrüßte.
»Guten Tag, ich komme wegen des Flügels«, sagte Anna laut.
»Sind Sie angemeldet?«
»Ich habe mit Frau Hölter gesprochen.«
Sie atmete auf, als sich anstatt einer Rückfrage das elek trische Schwingtor gleichermaßen geräuschlos wie hoheit lich öffnete. Sie fuhr die Auffahrt zum Haus hinauf, dessen große Säulen dem weißen Prunkbau einen neureichen Touch verliehen. Christoph Kessler musste ein ausgesprochen wohlhabender Mann gewesen sein, und offenbar hatte er das auch gern gezeigt. Direkt vor dem Portal parkten zwei blitzblank polierte Aston Martins und warteten auf ihre neuen Besitzer. Anna stellte ihren alten VW Touareg in gebührendem Abstand ab und stieg aus, als ihr bereits ein großer, korpulenter Mann mittleren Alters entgegenkam.
»Karl Kessler«, stellte er sich mit freundlichem Lächeln vor und reichte Anna die Hand. Er war ihr auf Anhieb sympathisch. Wenn Christoph Kessler eine ähnliche Statur besessen hatte wie sein Bruder, wunderte es sie nicht, dass er nicht alt geworden war. Ein Kollaps oder Herzinfarkt hatte vermutlich niemanden besonders überrascht. Gleichzeitig stellte sie sich Petra Kessler neben ihm vor, deren Gewicht sie auf ein Drittel des seinen schätzte. Karl Kessler schnaufte angesichts der Hitze, und auf seiner Stirn, über der sich das schüttere Haar kräuselte, bildeten sich Schweißtropfen, die er mit einem Stofftaschentuch abtupfte. Gemeinsam betraten sie die mit weißem Marmorfußboden ausgestattete Halle, und Anna staunte beim Anblick des sicher an die achtzig Quadratmeter großen Wohnzimmers, das sich über zwei Ebenen erstreckte und an dessen Ende der Flügel stand. Das Haus war ohne Zweifel sehr geschmackvoll eingerichtet. Der mit hellen Naturschieferplatten ausgelegte Fußboden ließ den Raum riesig erscheinen. Die helle Sitzgruppe, der große Messing-Glas-Esstisch und die insge samt eher reduzierte Einrichtung verliehen dem Ganzen allerdings etwas beinahe steril Unpersönliches. Anna ging auf den Flügel zu und strich vorsichtig über das edle schimmernde Holz, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, wie man einen Flügel begutachtete, geschweige denn, wie man darauf spielte. Sie hoffte, schnell Gelegenheit zu bekommen, mit Susanne Hölter zu sprechen.
»Ein wunderschöner Flügel«, sagte sie und fuhr mit den Fingern sanft über die Tasten.
»Ja, nicht wahr? Sie sind herzlich eingeladen, darauf zu spielen.«
»Spielen Sie auch?«
»Nein, ich verstehe nichts von Musik.«
Anna atmete auf. Sie konnte also einfach ein paar Tasten anschlagen, um sich den Anschein einer Kaufinteressentin zu geben, ohne dass Kessler sofort Verdacht schöpfen würde.
»Schöne Fotos!«, sagte sie und deutete auf die Silberrah men auf der Fensterbank, die ebenso blank geputzt aussahen wie Petra Kessler selbst, die nahezu auf jedem der Fotos zu sehen war. Eines der Bilder zeigte sie auf einer Segeljacht. Daneben ein Mann, der Annas Gegenüber tatsächlich verblüffend glich.
»Ist der Flügel für Sie?« Karl Kessler hatte offenbar keine Lust, seine Zeit mit Smal Talk zu verschwenden. An nas in die Jahre gekommener fahrbarer Untersatz ließ ihn wohl auch daran zweifeln, dass sie sich einen Flügel leisten konnte, dessen Wert er beiläufig auf 50 000,– Euro bezifferte.
»Der Flügel ist für meine Nichte beziehungsweise meinen Onkel, wenn es um die Person geht, die ihn bezahlen soll«, sagte sie lächelnd.
»Verstehe.« Es läutete an der Tür, und kurz darauf trat eine gedrungene, schlicht gekleidete Frau mit einem jungen Mann in den Raum, dem ein Aston Martin optisch sicherlich wesentlich besser zu Gesicht stehen würde als seinem ursprünglichen Besitzer.
»Der Herr für den Aston Martin ist
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