Gewitterstille - Kriminalroman
Hinweise, dass Jens vielleicht doch kein Mörder war. Sophie war voller Unruhe. Sie wollte irgendetwas tun und hatte entschieden, an der Besichtigung des Nachbarhauses teilzunehmen. Sich in die Höhle des Löwen zu begeben schien ihr besser, als untätig zu Hause herumzusitzen. Sie nahm Emily auf den Schoß und ließ sich von Annas Haushaltshilfe Theresa dabei helfen, die Stufe zum Haus von Frau Möbius zu überwinden. Nachdem sie Anna versprochen hatte, auf Emily achtzugeben, konnte sie sie unmöglich bei Theresa zurücklassen, gegenüber der die Kleine ohnehin ungewöhnlich stark fremdelte.
Der Makler, den sie schon etwa zwanzig Minuten zuvor am Haus der Nachbarin gesehen hatte, blickte das Trio gleichermaßen kritisch wie ratlos an, als er die Tür öffnete. Er entsprach mit seinen glatt gegelten Haaren und dem geschniegelten Anzug dem Prototyp eines Immobilienmaklers.
»Guten Tag – Sie sind?« Ganz offenbar forschte er in seinem Gedächtnis nach angemeldeten Bewerbern für das Haus und vermochte das Dreiergespann nicht einzuordnen.
»Wir sind nicht angemeldet. Wir sind Frau Kesslers Nachbarn«, sagte Sophie wahrheitsgemäß, bevor sie, ohne rot zu werden, hinzufügte: »Sie hat uns gesagt, dass wir uns das Haus gern heute mit ansehen können, wenn Sie die Besichtigung durchführen.«
Sophie bemühte sich, ihr freundlichstes Lächeln aufzusetzen. Dabei entging ihr nicht, dass es in dem Kopf ihres Gegenübers arbeitete. Wahrscheinlich fragte er sich, ob Sophie von Petra Kessler abgestellt worden war, um ihn zu überwachen, oder ob die Nachbarn tatsächlich ein Interesse an dem Haus angemeldet hatten.
»Na, dann kommen Sie mal rein und begeben sich schon einmal ins Wohnzimmer«, sagte er und klang dabei eher widerwillig. Er musterte Theresa zudem mit einem abschätzigen Blick, der Sophie ärgerte und sie bei anderer Gelegenheit veranlasst hätte, den Makler in ihrer ju gendlichen Direktheit zurechtzuweisen. Im Moment aber war sie viel zu aufgeregt über das, was Anna ihr erzählt hatte. »Sie können ruhig wieder rübergehen, Theresa«, sagte Sophie bestimmt. »Ich bin hier ja nicht mit Emily allein.«
»Ja, machen Sie das ruhig«, stimmte der Makler zu. »Hier wird es sowieso gleich voll genug werden.«
Theresa wirkte unschlüssig.
»Aber Sophie, kommen Sie denn wirklich hier allein zurecht? Frau Lorenz hat gesagt, dass ich Ihnen helfen soll, auf Emily aufzupassen, solange sie nicht da ist, und ich habe es versprochen.«
»Es ist wirklich alles okay«, beruhigte sie Sophie. »Sie wissen doch, dass ich gerade mit Anna telefoniert habe. Außerdem müsste Georg jeden Moment kommen. Schicken Sie ihn einfach rüber, damit er Emily abholen kann. Eigentlich wollte er schon längst da sein.«
Theresa wirkte immer noch unsicher, verließ aber schließlich doch das Haus. Emily krabbelte begeistert von der unverhofften Abwechslung durch das Wohnzimmer, während der Makler nach und nach seine Kunden im Flur um sich versammelte und ihnen das alte Haus mit blumigen Worten anpries. Es verursachte in Sophie ein mulmi ges Gefühl, zu wissen, dass in dem durchgesessenen Samt sessel, vor dem sie mit ihrem Rollstuhl stand, Frau Möbius gestorben war. Genau hier hatte sie leblos gelegen, während Jens sie bestohlen hatte. Sosehr Sophie Jens bedauert hatte, zu Unrecht eines Mordes verdächtigt zu werden, so sehr wurde ihr jetzt bewusst, wie groß dennoch das von ihm begangene Unrecht war. Während Sophies Blick über die dunklen Samtvorhänge und die Anrichte wanderte, wurde ihr schonungslos klar, dass sie sein Handeln zutiefst verurteilte. Wochenlang hatte sie nur die Tragik seiner Situation gesehen, weil man ihn ihrer festen Überzeugung nach fälschlich des Mordes verdächtigte, und dabei verdrängt, wie viel Kaltblütigkeit dazu gehört haben muss te, eine Tote zu bestehlen. Sophie erschauderte und schrak dann zusammen, als mit lautem Krachen etwas zu Boden polterte. Sie wandte sich um und sah, dass Emily den Korb vor dem Kamin ausgekippt hatte.
»Nicht den Korb ausräumen«, schimpfte Sophie, als Emily begann, die Holzscheite herauszunehmen und auf dem Fußboden zu verteilen. Emily ließ von ihrem Vorhaben ab, wandte sich einem ebenfalls im Korb befindlichen Bündel fest verschnürter Zeitungen zu und begann, einzelne Papierfetzen abzureißen und auf dem Fußboden zu verstreuen.
»Das ist zum Feueranzünden und nicht zum Zerrupfen!«, tadelte Sophie, entschied sich allerdings, Emily gewähren zu lassen, da die
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