Gewitterstille
mit Sauerstoff versorgte. Sie achtete darauf, nicht die Braunüle auf Sophies Hand zu berühren, die ihren Körper mit einem der unzähligen Schläuche verband. Sophies Gesicht war angeschwollen, und ein dicker Verband auf ihrem Kopf verband die Platzwunde, die sie von dem Schlag davongetragen hatte. Beate, die sofort aus Frankreich angereist war und jetzt neben Anna saß, weinte leise und hielt einen Becher Tee umklammert. Die kommenden Stunden sollten über Sophies Schicksal entscheiden. Anna konnte nur allzu gut nachempfinden, durch welche Hölle Beate gerade ging. Ihr war klar, dass Sophies Mutter die gleiche Verlustangst empfand wie sie. Wenn Emily nur noch am Leben war! Sie fühlte sich, als sei sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden um Jahre gealtert, und wusste, dass sie keine Minute länger würde leben wollen, wenn Emily etwas zugestoßen wäre. Anna nippte an ihrem Tee. Georg saß hinter der Glaswand des Zimmers auf dem Flur der Intensivstation, und wann immer Anna zu ihm hinübersah, lächelte er ihr aufmunternd zu. Sie wusste, dass er ebenso sehr litt wie sie, und trotzdem versuchte er, ihr Zuversicht und Kraft zu schenken und ihr Mut zu machen. Nie war sie ihm so dankbar gewesen und nie hatte sie sich ihm so nah gefühlt wie in diesen Stunden, in denen sie gemeinsam um ihr Kind bangten. Er hatte ihr nicht den geringsten Vorwurf gemacht, weil sie Emily und Sophie allein gelassen hatte. Im Gegenteil, er hatte versucht, ihre Selbstvorwürfe zu zerstreuen und sie zu trösten. Sie wird ihr nichts antun, hatte Georg ihr in der Nacht immer wieder zugeflüstert, die sie eng aneinandergeschmiegt auf Annas Sofa verbracht hatten. Wenn sie sie hätte töten wollen, hätte sie sie nicht mitgenommen. Mit diesem Gedanken hielt sich auch Anna aufrecht. Es gab Augenblicke, in denen sie sicher war, dass Emily jeden Moment durch die Tür getapst kommen würde, und wieder andere, in denen die Angst, sie nie wiederzusehen, sie fast wahnsinnig machte.
Georg, dem Emily so verblüffend glich, schien kurz eingenickt zu sein. Jetzt blickte er auf, als habe er gespürt, dass Annas Augen auf ihm ruhten. Er sah zerzaust und müde aus. Sie empfand in diesem Moment, in dem sie einander zulächelten, eine so tiefe Zuneigung für ihn wie nie zuvor.
55. Kapitel
D er Regen war stärker geworden. Polizeiinspektor Zöllner stieg fröstelnd in das Fahrzeug der Gendarmerie und griff nach seinem Funkgerät. Das Regenwasser hatte seine Uniformjacke durchnässt und rann kalt seinen Nacken hinunter. Er hatte Mühe, seinen Standort durchzugeben und seinem Kollegen auf der Wache klarzumachen, was genau passiert war. Der Wagen vor ihm war plötzlich von der Fahrbahn abgekommen, hatte die Leitplanke durchbrochen und war den Abhang hinuntergerauscht. Das Geschehene erschien Zöllner fast unwirklich. Er lehnte sich in seinem Wagen zurück, nahm eine Zigarette aus der Schachtel vom Armaturenbrett und rauchte sie in tiefen Zügen. Der Rettungshubschrauber war be reits unterwegs. Für ihn gab es in diesem Moment nichts zu tun, als abzuwarten. Es war unmöglich, den Abhang ungesichert hinunterzuklettern.
Endlich hörte er die Rotorgeräusche des sich nähernden Hubschraubers. Er vermutete bereits jetzt, was später traurige Gewissheit werden würde: Niemand dort unten in dem Autowrack hatte den Unfall überlebt.
56. Kapitel
J ens Asmus stand dicht an die Wand gepresst neben der offenen Tür am Eingang des Schwesternzimmers und horchte. Offenbar hantierte jemand an der Spüle herum. Er warf einen schnellen Blick hinein, erkannte, dass niemand am Küchentisch saß, und huschte vorbei.
Leise schlich er voran, bis er Sophies Zimmer erreichte. Der Raum war stark abgedunkelt. Er trat an das Bett und setzte sich am Kopfende auf einen Stuhl. Es zerriss ihm das Herz, Sophie an diesen Schläuchen und Geräten angeschlossen zu sehen. Er betete, dass ihn hier so schnell niemand entdecken würde. Vorsichtig strich er über Sophies Hand, in der noch immer eine Braunüle steckte.
»Ich musste dich sehen«, flüsterte er, als könne sie ihn hören. Sie schien ganz friedlich zu schlafen, und ihr Atem ging gleichmäßig und ruhig. Eine ganze Weile saß er dort und betrachtete sie. Ihr Kopf war leicht zur Seite in seine Richtung geneigt, und er bildete sich ein, sie würde ihn anlächeln. Trotz der Dunkelheit waren die veilchenblauen Blutergüsse rund um ihre Nase zu erkennen. Er musste in Erfahrung bringen, ob sie noch immer in Lebensgefahr schwebte. Ganz
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