Gewitterstille
absolut sicher«, bestätigte Bendt. »Das Haus wurde zwar stark verwüstet, es ist aber keineswegs ausgebrannt. Der Brand wurde früh genug entdeckt, um das zu verhindern.«
»Aber wo ist sie?«, schluchzte Anna und blickte hinaus in den Garten. Der heftige Gewitterregen prasselte gegen die Scheiben und tauchte die Welt in ein dunkles Grau. Nicht zu wissen, wo Emily in dem Unwetter da draußen war, brachte Anna fast um den Verstand. Ihre Verzweiflung und Angst waren so groß, dass sie daran zu ersticken glaubte. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als ihr Kind wieder in die Arme schließen zu können. Sie wusste, dass die Situation auch für Georg unerträglich war. Die Sorge um ihr Kind ließ sie zu einer Einheit zusammenwachsen, und Anna umklammerte dankbar seine Hand.
»Die Nachbarschaft wird bereits abgesucht«, berichtete Bendt, dem anzusehen war, wie sehr er sich wünschte, Anna helfen zu können. »Emily muss irgendwie aus dem Haus gekommen sein und …«
»Das macht doch überhaupt keinen Sinn«, unterbrach Georg Bendt. »Warum hat Sophie denn das Haus nicht zusammen mit dem Makler verlassen?«
»Wir müssen Emily suchen!«, sagte Anna schwach, wurde jedoch von Georg sanft in den Sessel zurückgedrückt, als sie aufstehen wollte. »Du bleibst jetzt erst einmal sitzen«, sagte er bestimmt. »Du wirst hier gebraucht, sobald man Emily gefunden hat.«
Anna leistete keinen Widerstand. Letztlich war ihr klar, dass sie im Hinblick auf die Menge an Beruhigungsmitteln, die sie eingenommen hatte, ohnehin jeden Moment zusammenzuklappen drohte.
»Es ist fast elf«, sagte Bendt. »Vielleicht ist sie irgend wo aufgefunden worden und längst in ein Kinderheim oder zur Polizei gebracht worden.« Seine Stimme klang wenig zuversichtlich.
»Was ist mit Sophie? Sie muss doch wissen, was mit Emily passiert ist«, sagte Anna verzweifelt.
»Die Kopfverletzung, die sie erlitten hat, ist sehr schwer wiegend«, berichtete Bendt. »Sie muss sehr unglücklich gefallen sein und ist noch nicht wieder bei Bewusstsein.«
»Was, wenn es kein Unfall war, Bendt? Was, wenn Petra Kessler die beiden im Haus angetroffen hat?«
Bendt ging zu Anna hinüber und kniete sich vor ihrem Sessel hin. Anna konnte ihm ansehen, dass auch er diese Möglichkeit längst in Betracht gezogen hatte.
»Dafür haben wir bisher keine Anhaltspunkte«, sagte Bendt und drückte Annas Hand, die bei dem Gedanken, ihr Kind könnte in der Hand einer Wahnsinnigen sein, erneut laut aufschluchzte. Bendt sah zu ihr auf. »Sobald Sophie aufwacht, werden wir sie befragen und dann hoffentlich mehr wissen.«
»Und wenn sie so schnell nicht aufwacht? O Gott, die arme Sophie! Wer garantiert uns, dass sie sich überhaupt an etwas erinnern wird?«, sagte Anna und musste erneut weinen. »Emily ist ganz allein irgendwo in dem Unwetter da draußen oder …« Ihre Stimme brach erneut.
»Ich finde sie, Anna«, versprach Bendt und ging zur Tür. »Ich finde sie.«
50. Kapitel
E s war bereits drei Uhr nachts. Braun, der selbst Vater von zwei Töchtern war, konnte nur zu gut nachempfinden, welches Martyrium Anna und Georg gerade durchleiden mussten. Das Kind schien vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Sein ausgewickeltes Schinkenbrot lag unberührt auf seinem Schreibtisch, der nur von dem Schein seiner alten, schmucklosen Metalllampe beleuchtet wurde. Es gab keine heiße Spur. Unmittelbar nachdem sich herausgestellt hatte, dass das Kind in dem Brandhaus gewesen sein musste, hatte man die »Soko Emily« gegründet. Um 17.00 Uhr hatten Suchtrupps begonnen, die Umgebung rund um Annas Haus abzusuchen. Man hatte die umliegenden Gärten durchforstet, Gartenteiche und Kellerschächte abgesucht – ohne Erfolg. In Annas Nachbarschaft hatte sich nach Bekanntwerden von Emilys Verschwinden eine Gruppe von Hilfswilligen zusammengefunden und ebenfalls eine Suchaktion gestartet. Keiner schien das Kind gesehen oder dessen Verschwinden bemerkt zu haben. Braun ließ sich in seinen Schreibtischstuhl zurückfallen und rieb sich die Augen. Wo, zum Teufel, war dieses Mädchen?
Er hielt es für weitestgehend ausgeschlossen, dass ein Kind von anderthalb Jahren, das gerade mal laufen konnte, sich unbemerkt und allein weiter als zweihundert Meter vom Brandhaus entfernt haben konnte. Seine Unruhe wuchs stündlich. Je mehr Zeit verging, umso größer wurde seine Sorge. Mit einer Aussage von Sophie war in den kommenden zwanzig Stunden nicht zu rechnen. Man hatte sie in ein künstliches Koma
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