Gewitterstille
mir, dass du mich morgen nicht wieder so anschreist.«
Emily tat im Schlaf einen tiefen Seufzer.
»So bist du lieb«, flüsterte Petra. »Du musst immer lieb zu mir sein, hörst du?«
Auch sie wollte einen Moment lang schlafen. Doch wann immer sie ihre Augen schloss, tauchte das Gesicht ihres Vaters vor ihr auf. Sie fand es sonderbar, dass sie ihn sah. Es war ihr nicht gelungen, die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. Sie dachte an die Nacht zurück, als ihr Mann gestorben war. Sie hatte gewusst, dass das Fleisch, das sie in Sojasoße eingelegt und für ihn gebraten hatte, nicht ganz in Ordnung gewesen war. Aber damit gerechnet, dass er sterben würde, hatte sie nicht. Sie hatte ihm nur eine Magenverstimmung gegönnt. Sie hatte ihm vieles gegönnt, seit sie herausgefunden hatte, dass er über Jahre hinweg ein Doppelleben geführt hatte. Und dann hatte sie ihn aus dem Arbeitszimmer um Hilfe rufen hören. Sie war hinuntergegangen und hatte ihn erblickt, wie er über den Teppich kroch und stöhnte, und sie hatte sich dem Gefühl der Überlegenheit hingegeben, die es ihr verlieh, ihn leiden zu sehen. Sie hatte einfach nur dagestanden, und plötzlich war er zusammengesackt und hatte keinen Laut mehr von sich gegeben. Er hatte es nicht anders verdient. Nachdem man ihn weggebracht hatte, hatte sie im Schein der Schreibtischlampe auf seinem Stuhl gesessen und den Brief gelesen, an dem er offensichtlich kurz zuvor noch geschrieben hatte, und ihr war klar geworden, dass ihre Mutter von seiner Liaison gewusst, ja sie angeblich sogar verstanden hatte. Er hatte ganz rege mit ihr korrespondiert, und sie war unsagbar wütend gewesen, nachdem sie die Briefe gelesen hatte, die ihre Mutter ihm geschrieben und die sie im Schreibtisch gefunden hatte. Sie hatte die ersten Zeilen des Briefes überflogen, und ihre Beine hatten sich vor Entsetzen ganz taub angefühlt. Ihre Mutter war also seine Verbündete gewesen. Ihren Kontakt hatte er von dem Moment an gesucht, von dem er meinte, Petra werde unbequem und gehöre in eine Klinik. Ihre Mutter hatte Christoph bestätigt in seiner Einschätzung, ihre Tochter sei krank. Petra hatte zum Telefonhörer gegriffen und ihre Mutter zur Rede stellen wollen. Sie hatte ihr mitteilen wollen, welche Demütigung es für sie bedeutete, dass sie hinter ihrem Rücken mit ihrem Mann korrespondiert hatte. Aber sie war nicht dazu gekommen. Als sie ihrer Mutter gesagt hatte, dass Christoph tot sei, hatte die sofort gefragt: »Was hast du ihm angetan, Petra?« Sie hatte gar nicht in Betracht gezogen, dass es ein Unfall gewesen sein könnte. In diesem Moment hatte Petra gewusst, dass es zu handeln galt. Sie hatte sie zum Schweigen bringen müssen! Andernfalls hätte ihre Mutter die Welt glau ben gemacht, dass Petra seinen Tod zu verantworten hatte. Und wie sie es schon bei ihrem Vater geplant hatte, hätte sie auch bei ihr keine Skrupel gehabt, sie für den Rest ihres Lebens in ein Irrenhaus zu stecken.
Petra erschauderte noch heute bei dem Gedanken an die Nacht, in der sie ihn im Gartenhaus gefunden hatte. Sie war überzeugt davon, dass der Freitod auch für sie die einzige Möglichkeit gewesen wäre, einer Einweisung in eine Klinik zu entgehen. Selten war sie sich sicherer als in die sem Moment, richtig gehandelt zu haben, als sie sich gegen das Leben ihrer Mutter und damit für sich selbst entschieden hatte.
52. Kapitel
B raun musste sich zusammenreißen, um nicht mit quietschenden Reifen vor dem Hotel vorzufahren. Er brachte den Wagen auf dem hinteren Parkplatz des kleinen Vertreterhotels im Hamburger Stadtteil Wandsbek zum Stehen. Selten war er mit seinem behäbigen Körper so schnell aus einem Wagen gesprungen wie in dieser Nacht. Die Einsatzkräfte hatten ihm bereits per Funk mitgeteilt, dass das Hotel umstellt war.
An der Rezeption wurden Bendt und er bereits von einer kleinen, rundlichen Dame erwartet. Ihre Wangen glühten vor Aufregung.
»Ich hoffe, dass ich Sie nicht umsonst hierherbemühe«, sagte sie statt einer Begrüßung und nahm den Generalschlüssel aus dem Schlüsselkasten.
»Es ist absolut richtig, dass Sie uns angerufen haben«, sagte Braun und folgte der Frau über den Flur.
»Ich mein’ ja nur«, kam die Frau auf das Telefonat zu sprechen, das sie eine knappe Stunde zuvor mit Kommissar Braun geführt hatte. »Welche Mutter färbt sich schon mitten in der Nacht die Haare, während ihr krankes Kind von Fieberkrämpfen geschüttelt wird?« Sie führte die Männer über den
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