Gewitterstille
hatte, denn wenn es nach Georg gegangen wäre, hätte ihr Familienleben völlig anders ausgesehen.
»Nein, du bist tatsächlich nicht meine Frau«, sagte Georg sehr leise und wich einen Schritt zurück. Anna wollte etwas erwidern, fand aber einfach nicht die richtigen Worte. Sie sahen einander einen Moment lang schweigend an.
»Emily weint«, stellte Georg schließlich fest und marschierte hinaus.
6. Kapitel
E ndlich, endlich schien ihm das Glück hold zu sein. Heute, das spürte er, war sein Traum zum Greifen nah. Bereits beim Blackjack hatte er 3000 Euro gewon nen. Seine neue Freundin war offenbar eine Glücksfee. Mit glühenden Wangen hatte sie das faszinierende Spiel verfolgt, und das Glitzern in ihren Augen verriet ihm, dass auch sie von dem Strom mitgerissen wurde. Es war ihr erster Abend in einem Casino, was er ebenfalls als untrügliches Zeichen dafür wertete, dass Fortuna an seiner Seite war. Wie immer, wenn er spielte, stand sein ganzer Körper unter Hochspannung. Das Spiel war gleichermaßen seine Liebe wie sein Fluch. Es war wie das Meer, das er so sehr liebte und das er irgendwann bezwingen würde. Er würde die Welt umsegeln, und der Schlüssel zu seinem Boot – zu seinem neuen Leben – war die rollende Kugel.
Jedes Spiel übte auf ihn die gleiche Faszination aus. Er wurde einfach nicht müde, dem zuerst hektischen und dann immer langsamer werdenden Kreisen der Kugel in dem Roulettekessel zuzusehen. Er hypnotisierte die Kugel, versuchte sie zu lenken und ihr die richtige Richtung zu geben, bis er ihr schließlich den stillen Befehl erteilte, stehen zu bleiben. Die Zwei, so war er sicher, sollte die Zahl dieses Abends werden. Er hatte seine Jetons in den ersten Rouletterunden zunächst lediglich auf Rot oder Schwarz gesetzt und meistens gewonnen. Er hatte so gespielt, weil es ihr Wunsch gewesen war. Die meisten Leute, die das Casino das erste Mal besuchten, machten ihre Einsätze so. Sie verstanden es nicht besser, weil ihnen das Risiko fremd war. Sie kannten die Ungeduld nicht, die sein ständiger Begleiter war. Es ging ihnen im Grunde nicht darum zu gewinnen, sondern möglichst lange am Tisch zu bleiben. Ihn ermüdete diese Art von Spiel, mit dem man den Einsatz gerade mal verdoppeln konnte. Er wollte sein Glück nicht länger verschwenden. Es ging zu langsam voran. Er musste die Gunst der Stunde nutzen. Er wollte nicht seine Chance versäumen. Schließlich würde er auch nicht bei Windstärke acht das Segel einholen und auf die Flaute warten, wenn es galt voranzupeitschen. Das Verlangen, das ihn antrieb, war so stark, dass er es kaum mehr aushielt. Jetzt war der Moment gekommen, alles zu riskieren, den Rückenwind zu nutzen und dem Ziel entgegenzusteuern. Die letzte Gewinnzahl war die Fünf gewesen. Mehr als eine Ahnung hatte ihm die Fünf vorausgesagt. Ein wenig mehr Mut, und er hätte die 10 000 Euro, die sich in säuberlich aufgereihten Jetons vor ihm stapelten, bereits in 370 000 Euro verwandeln können. Aber egal – sie hatte ihm ihre Glückszahl, die Zwei, zugeflüstert, und er hatte gewusst, dass es seine Zahl werden würde. Er raffte mit beiden Händen seine Jetons zusammen, fing den geschulten Blick des Croupiers auf und schob den Stapel auf die Zwei. Sie hielt den Atem an. Nur für einen winzigen Moment wünschte er sich, doch eine Dreierkombination gewählt zu haben. Aber die Signale seiner inneren Stimme schienen ihm zu stark, ja, zu eindeutig zu sein. Er spürte ihren gleichermaßen erschrockenen wie faszinierten Blick von der Seite, wandte sich ihr aber nicht zu. »Rien ne va plus«, sagte die Stimme des Croupiers bestimmt und brach te gleichzeitig die Kugel auf ihre Bahn. Sie kreiste, tanzte fast, begann schließlich zu schlingern und in unendlicher Trägheit ihrem Ziel zuzusteuern. Die Kugel fiel auf die Zweiundzwanzig.
7. Kapitel
D er Himmel war in ein trostloses Dunkelgrau getaucht, und der Regen fiel in stetigem Rhythmus auf die überschaubare Zahl der dunklen Schirme, unter denen sich ihre Besitzer in stiller Andacht rund um das Grab von Frau Möbius versammelt hatten. Nach dem strahlenden Sonnenschein der vorangegangenen Tage war in der Nacht zuvor ein heftiges Gewitter aufgezogen. Dicke Tropfen prasselten leise auf den Deckel des hölzernen Sarges. Frau Möbius’ Ruhestätte lag ganz in der Nähe des Mausoleums der Eschenburgs, das fast wie eine kleine Ka pelle aussah und so typisch war für den Burgtorfriedhof, dessen zahlreiche Familiengrüfte namhafter Lübecker Fa
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